
Es waren verstörende Bilder, die uns gestern aus Washington erreichten. Was in den USA geschehen ist, zeigt auf, wie verletzlich die Demokratie ist. Und wie dringend diese das Engagement von uns allen braucht.
Dass die Demokratie Pflege braucht… Dass auch der politische Gegner Respekt verdient… Dass wir unserer politischen Kultur Sorge tragen sollten…
Bis gestern Abend empfand man solche staatspolitischen Postersätze als Klötze aus dem Bausatz für eine 1.-August-Rede: nicht sonderlich prickelnd, weil ganz und gar selbstverständlich. Bis gestern Abend lebten wir im Glauben, dass unsere Demokratie eine Festung ist. Ein Monument für die Ewigkeit.
Damit verbunden war die Überzeugung, dass bei allen Differenzen zwischen Links und Rechts ein Minimalkonsens besteht. Zu diesem Konsens gehört erstens, dass Fakten Fakten sind – dass also ein Tisch ein Tisch ist und keine Partei behauptet, es handle sich dabei um einen Stuhl. Zweitens gehört dazu, dass gewinnt, wer mehr Stimmen hat und verliert, wer weniger hat. Eine Banalität, möchte man meinen. Eine Banalität? Das war einmal.
Eine Zäsur
Die Vorgänge in Washington, die mich gestern Abend an den Fernseher gefesselt hatten, obschon ich – ob aus Entsetzen, Fassungslosigkeit oder Nicht-Wahrhaben-Wollen – kaum hinschauen konnte: Diese Vorgänge sind, so finde ich, eine Art polit-psychologische Zäsur.
Sie sind Tiefpunkt und politischer Weckruf in einem. Ausgerechnet aus den USA, diesem Land mit über zweihundertjähriger demokratischer Tradition, kommen Bilder, die wir eigentlich mit so genannten «failed states» assoziieren. Ein amerikanischer Präsident, der seine Abwahl wider besseres Wissen und ohne jede Faktenbasis zum Betrug stilisiert, der unentwegt lügt und pöbelt und zündelt und damit seine Anhänger bis zum Äussersten aufhetzt: Ich fasse es noch immer nicht. Der gestrige Sturm auf das Kapitol: Man würde ihn als Plot eines schlechten, weil komplett realitätsfernen Actionfilms abtun, wenn wir es nicht besser wüssten.
Das Undenkbare – dass sich selbst eine stolze, alte, mächtige Demokratie ins Wanken bringen lässt – ist seit gestern denkbar. Das ist verstörend und schmerzhaft. Und gleichzeitig eine Art Weckruf: Natürlich gab es auch anderswo Zeichen ähnlicher Verwerfungen. Ich denke an den Versuch von kruden Anti-Corona-Politik-Demonstrierenden, in Berlin das Reichtagsgebäude zu stürmen. Doch so befremdend die bisherigen Vorfälle auch waren: Was gestern in der US-Hauptstadt sichtbar wurde, hat eine andere Dimension. Schlicht und einfach, weil der mächtigste Mann der Welt den Angriff auf die demokratischen Institutionen begrüsste, ja gar dazu animierte.
Washington kann überall sein
Die gestrigen Vorgänge sind eine eindringliche Mahnung an uns alle. Dass wir uns bewusst werden, wie fragil die Demokratie ist. Dass diese nicht von selbst, «einfach so» läuft. Dass sie aus der Spur geraten kann – und zwar nicht nur auf der anderen Ozean-Seite, sondern potenziell überall. Der gestrige Abend ist ein Aufruf an alle Demokratinnen und Demokraten dieser Welt: Dass sich die Pflege der Demokratie nicht auf rituelle Beteuerungen an 1.-August- und anderen Sonntagspredigten beschränken darf.
Die Demokratie zu pflegen heisst, uns Tag für Tag neu um unsere Gesellschaft zu bemühen: also zu verhindern, dass sich diese spaltet; zu vermeiden, dass sich Enttäuschte, Frustrierte und Verbitterte abwenden; mitzuhelfen, dass sich möglichst viele einbringen können und einbringen wollen. Demokratie heisst Volksherrschaft. Das Volk sind alle. Das Volk sind wir.
So war für mich der gestrige Abend ein Abend der Extreme: extrem beelendend und extrem motivierend. Ich und wir alle, die uns in der Politik engagieren und hier Verantwortung tragen, müssen die Vorgänge in Washington als Verpflichtung verstehen: als Verpflichtung, uns in allen politischen Auseinandersetzungen für einen versöhnlichen Umgang einzusetzen, auf Rechthaberei, auf Ausgrenzung, auf selbstgerechte und herablassende Besserwisserei zu verzichten. Das ist das Wesen der Demokratie.
Keine Selbstverständlichkeit
Die Demokratie ist nicht nur deshalb so unschätzbar wertvoll, weil sie es möglich macht, dass wir das politische Leben und die politischen Institutionen gemeinschaftlich gestalten. Sie ist auch deshalb so wertvoll, weil sie von uns Reife und Menschlichkeit verlangt. Zur Demokratie gehört, dass wir unsere Verschiedenheit schätzen und uns gerade deshalb zu verstehen suchen. Dass wir unterschiedliche Meinungen als normal erkennen und darüber miteinander diskutieren und streiten. Dass wir uns dabei immer in die Augen schauen können. Dass wir politische Fights anständig und fair führen, im Bewusstsein um unsere politische Kultur des gegenseitigen Respekts.
Das ist – ich gebe es gerne zu – manchmal anspruchsvoll. Oft schon haben mich politische Gegner zur Weissglut getrieben. Und ich habe mich auch schon im Ton vergriffen. Nicht immer fiel und fällt mir das Versöhnen nach solchen Auseinandersetzungen leicht. Aber die Anstrengung hat sich noch jedes Mal gelohnt.
Dass wir die Ansprüche einlösen, welche die Demokratie an uns stellt: Dafür will ich kämpfen, zusammen mit allen anderen Freundinnen und Freunden der Demokratie. Seit gestern wissen wir, dass dieser Kampf nötig ist und nie erlahmen darf. Weil die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist.
Foto: Das Kapitol in Washington im Belagerungszustand (Screenshot CNN)
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