
Weniger rhetorischer Feuereifer, mehr Toleranz – und ein bisschen Demut. Das wünsche ich mir fürs neue Jahr. Das auslaufende Jahr stand erneut im Zeichen der Pandemie. Ich hoffe, dass wir im kommenden Jahr anderen Herausforderungen wieder mehr Aufmerksamkeit widmen können.
Es neigt sich ein Jahr dem Ende zu, das – erneut – anspruchsvoll und anstrengend war. Wieder hat die Pandemie unser berufliches und privates Leben stark beeinflusst und uns vor Herausforderungen gestellt. Umso dankbarer bin ich allen, die unter erschwerten Umständen unser Leben und unseren Alltag am Laufen gehalten haben – und dies auch weiterhin tun.
Die Pandemie ist eine Belastungsprobe. Einerseits persönlich, weil wir alle direkt und unmittelbar davon betroffen sind. Andererseits für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es haben sich Gräben geöffnet, die bei der Abstimmung über das Covid-Gesetz sehr markant in Erscheinung traten.
Meine Meinung dazu habe ich schon mehrfach geäussert: Ich appelliere mit grosser Überzeugung an alle, sich impfen zu lassen – und zwar dreifach. Wer dreifach geimpft ist, tut sich selber einen Gefallen, weil er sich damit vor einer schweren Erkrankung schützt. Und er tut der Gesellschaft einen Gefallen, weil er dazu beiträgt, dass wir aus dem Pandemie-Modus in die Normalität zurückfinden.
Gleichzeitig wünsche ich mir jedoch mehr Toleranz – oder wie der Philosoph Hans Saner sagt: mehr Differenzverträglichkeit – und mehr Respekt. Es kann doch nicht sein, dass wir uns als Gesellschaft in unserer Solidarität und unserem Zusammenhalt erschüttern lassen, nur weil es der Impfung gegenüber verschiedene Ansichten gibt. Ein paar Gedanken zu diesem Thema stehen auch in einem heute erschienenen Gespräch, das ich mit dem “Tages-Anzeiger” geführt habe.
So ist denn mein Wunsch, dass wir alle unseren rhetorischen Feuereifer ein bisschen mässigen und so zur allseitigen Abrüstung beitragen. Damit wäre schon viel erreicht.
Andere Herausforderungen
Eine solche Abrüstung erscheint mir umso wichtiger, weil das rhetorisch aufgepimpte Gefecht den Blick verstellt – den Blick auf andere, ebenfalls grosse Herausforderungen.
Mir ist das plastisch bewusst geworden, als meine Regierungskolleg:innen und ich jüngst einen Rundgang mit einem «Surprise»-Stadtführer machten. «Surprise» ist ein Verein, der benachteiligte Menschen unterstützt. Der Verein gibt unter anderem das Strassenmagazin «Surprise» heraus – und bietet «soziale Stadtrundgänge» an, auf denen Armutsbetroffene und obdachlose Menschen aus ihrem Alltag berichten.
Der Rundgang war eine Reise durch die Zürcher Sucht- und Armutspolitik der letzten dreissig Jahre. Und es war für mich ein eindrücklicher, weil sehr authentischer Appell an die Demut – an die Demut, weil Glück und Erfolg im Leben erstens keine Selbstverständlichkeiten und zweitens nur sehr bedingt die Früchte des eigenen Verdiensts sind.
Ich habe mir die Podcast-Serie angehört, welche «Surprise» über Tito produziert hat. Titos Leben ist eine Fahrt auf der Berg-und-Tal-Bahn: Er verdiente viel Geld, war erfolgreicher Unternehmer – dann kamen kumuliert eine Wirtschaftskrise und private Schicksalsschläge. Diese mündeten in Überschuldung und Suchtkrankheit. Am Ende stand die Obdachlosigkeit. Heute hat sich Tito ein Stück weit ins Leben zurückgekämpft, hat seine Sucht im Griff und macht Stadtführungen in Basel.
Oder denken wir an Else Lasker-Schüler. Sie war die Tochter eines Bankiers und die grösste Dichterin des deutschen Expressionismus. 1933 musste sie, ihrer jüdischen Herkunft wegen, fliehen. Sie kam mit drei Taschen, 20 Mark und – wie sie schreibt – «völlig hoffnungslos» in Zürich an. Die ersten Nächte soll sie irgendwo am See zugebracht haben, zugedeckt von ihrem Mantel, danach lebte sie in einem winzigen, kalten Zimmer im Augustinerhof-Hospiz.
Doppelte Verantwortung
In jeder Biografie gibt es Brüche. Manchmal haben die Betroffenen Glück. Die Turbulenzen sind temporär und am Ende bleibt nur eine Delle. Andere haben weniger Glück und es kommt zum Totalabsturz. Ob die eine oder die andere Variante Realität wird, hängt von vielen Faktoren ab, wovon wir nur wenige beeinflussen können.
Daraus folgt für mich eine Mahnung.
Eine Mahnung an jene Menschen (und ich darf mich zu diesen zählen), die im Leben viel Glück erleben durften: Wir müssen Verantwortung übernehmen – wir müssen mehr tun für die Menschen, die den Boden unter den Füssen verloren haben. Es braucht ein starkes Netz der Menschlichkeit und der konkreten Hilfe, das diese Menschen trägt.
In meinem Fall würde ich sogar von einer doppelten Verantwortung sprechen – eine persönliche als Mitglied unserer Gesellschaft und eine zweite als Mitglied des Zürcher Regierungsrats.
Als Behördenmitglieder sind wir zuständig für das Handfeste: Wir helfen mit, dass die Nothilfe funktioniert, dass Verpflegungsposten vorhanden sind und alle ein Dach über dem Kopf haben. Da haben wir seit der offenen Drogenszene und seit den ersten Armutsberichten einiges erreicht. Wenn wir aber an die Menschen denken, die jeden Abend im reichen Zürich anstehen, um nur schon das Allernotwendigste zu bekommen, dann können wir noch nicht zufrieden sein.
Den Spagat üben
Über die konkrete Hilfe hinaus muss es uns als Mitgliedern der Gesellschaft aber noch um mehr gehen, nämlich ums gesellschaftliche Klima.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Diese trägt einerseits zum wirtschaftlichen Erfolg unseres Kantons und unseres Landes bei. Gleichzeitig vertieft sie den sozialen Graben.
Denn in unserer Leistungsgesellschaft gilt das Prinzip, dass jeder den Aufstieg schaffen kann. Er muss nur wollen. Das Selbstverständnis, dass alles möglich sei, wenn man entschieden genug wolle, wird auch vom Marketing kultiviert – man denke nur an die Slogans der grossen Sportartikelhersteller: «Just do it» oder «Impossible is nothing».
Dabei wissen wir doch alle: Die Behauptung, dass alles möglich sei, wenn man sich nur genügend anstrenge, ist ein Mythos. Ob hier bei uns in Zürich oder weltweit: Viele, sehr viele Menschen strengen sich tagein, tagaus ungeheuer an, versuchen trotz Schicksalsschlägen und manchmal widrigster Umstände auf den Beinen zu bleiben oder wieder auf die Beine zu kommen – und schaffen es trotzdem nicht, ihren Lebensunterhalt selber zu bestreiten.
Damit komme ich zu meinem letzten Weihnachtswunsch: Ich wünsche mir, dass wir beweglich bleiben – beweglich genug, um den Spagat zu schaffen.
Wir brauchen in unserem Kanton Exzellenz und Leistung – und es gehört zu den Aufgaben unter anderem der Zürcher Regierung, dafür das bestmögliche Umfeld zu schaffen.
Aber wir brauchen gleichzeitig eine starke, solidarische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die es nicht zulassen will, dass Menschen ausgeschlossen und ausgegrenzt werden, weil sie der Leistungserwartung nicht entsprechen können.
Ich wünsche mir, dass wir dem Leistungsgedanken nachleben, ohne diesen zu verabsolutieren.
Die Teilhabe fördern, immer wieder
Darum ist mir das Legislaturziel so wichtig, das sich die Zürcher Regierung gegeben hat: die Förderung der Teilhabe. Dieses Ziel ist für mich ein Symbol und eine Verpflichtung. Ich fühle mich – persönlich und als Mitglied dieser Regierung – verpflichtet, alles zu tun, damit möglichst viele Menschen sich als Teil unserer Gesellschaft ernst und mitgenommen fühlen. Diesen Anspruch bringt übrigens auch die Weihnachtskarte zum Ausdruck, die ich dieses Jahr verschickt habe: ein Wimmelbild, das der Illustrator Samuel Schumacher gestaltet hat und das die Vielfalt zeigt, welche unsere Gesellschaft ausmacht.
Gerade Menschen, denen das Leben keinen einfachen Weg beschert hat, müssen erfahren: Ja es ist wichtig, dass es mich gibt, und es macht für meine Umgebung einen Unterschied, ob ich da bin oder nicht.
Wir brauchen einander. Wie brauchen jeden und jede. Wir sind aufeinander angewiesen und müssen uns aufeinander verlassen können. Schneller, als wir vielleicht meinen.
Ich wünsche Ihnen von Herzen schöne Festtage – und dann ein erfrischendes, gesundes und hoffentlich etwas weniger anspruchsvolles 2022.

Bild: Die Vielfalt unserer Gesellschaft – das Wimmelbild von Illustrator Samuel Schumacher.
Liebe Jacqueline! Ganz herzlichen Dank für diesen Beitrag und deine Arbeit in der Zürcher Regierung! Auch wenn ich nicht immer mit allen deinen Positionen (z.B. bezüglich “Eigenverantwortung” in der Corona-Krise) einverstanden war, so schätze ich doch deinen Mut und dein grosses Engagement! Ich wünsche dir und deinen Lieben ein schönes Weihnachtsfest und alles Gute im neuen Jahr! Herzliche Grüsse, Kurt