
Der russische Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf unsere Grundwerte – auf die Menschenrechte, die Menschenwürde und die Idee des freiheitlichen, zivilisierten Miteinanders. Es beeindruckt mich, mit welcher Bestimmtheit die Menschen für diese Werte und für die Opfer des Kriegs einstehen. Ich hoffe, dass dieses entschlossene Bekenntnis nachhaltig ausstrahlt.
Es gibt Ereignisse, die prägen das Bewusstsein ganzer Generationen.
Für die Eltern meiner Generation waren es der Aufstand in Ungarn von 1956 und der Prager Frühling von 1968. Beide Ereignisse mündeten in eine Fluchtbewegung, die auch die Schweiz erreichte. Die Geflohenen erfuhren hier viel Solidarität und grosse Hilfsbereitschaft.
Der Krieg in der Ukraine ist für uns Heutige ein ähnlich einschneidendes Ereignis. Wiederum sind Abertausende auf der Flucht.
Wiederum erleben die Geflohenen viel Solidarität und stossen auf grosses Wohlwollen.
Die Reife einer Gesellschaft bemisst sich daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Der Satz – er wird einem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten zugeschrieben – gefällt mir. Er gefällt mir, weil er mein Verständnis von einer lebendigen, offenen Gesellschaft auf den Punkt bringt: In einer solchen Gesellschaft erfährt Solidarität, wer auf Unterstützung angewiesen ist.
Auf Unterstützung angewiesen sind Menschen, die auf der Flucht sind. Die Solidarität und Hilfsbereitschaft, mit denen die heutige Schweiz den Menschen aus der Ukraine begegnet und mit denen die Schweiz der 50er- und 60er-Jahre die Menschen aus Ungarn und aus der Tschechoslowakei empfangen hat: Sie sind vor diesem Hintergrund ein starkes Zeichen.
Eine doppelte Chance
Der Fall des Ukraine-Kriegs, aber auch die Fälle von 1956 und 1968 berührten und berühren uns stark, weil sie uns doppelt betreffen. Einerseits fühlen wir uns – indirekt – auch selber angegriffen. Denn das russische beziehungsweise sowjetische Vorgehen war/ist ein Angriff auf die Grundwerte unseres freiheitlichen Zusammenlebens, auf die Idee eines zivilisierten Miteinanders. Andererseits besteht ein Zusammenhang zwischen emotionaler Betroffenheit und geografischer Nähe: Was unweit von unserer Haustüre geschieht, nimmt uns weit stärker in Beschlag als eine Katastrophe am anderen Ende der Welt.
So gesehen verhilft uns die Wucht, mit der uns der Krieg in der Ukraine berührt und zum solidarischen Handeln veranlasst, zu einer Erkenntnis über uns selbst: Sie macht uns die Muster unserer Betroffenheit bewusst.
Und darin liegt eine doppelte Chance.
Erstens die Chance, zu erkennen, welche Kraft unsere Gesellschaft entwickeln kann, wenn wir unsere Grundwerte unmittelbar bedroht sehen.
In ruhigen Zeiten mögen diese Werte Selbstverständlichkeiten sein. Allenfalls werden sie am 1. August kurz beschworen, bevor wir zum Apéro gehen. Doch diese scheinbare Nonchalance ist rasch weg, wenn wir unsere Werte wirklich in Gefahr sehen.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt: Wir schauen nicht weg, wenn in unserer Nachbarschaft die Grundfesten unseres Zusammenlebens torpediert werden. Im Gegenteil. Wir reagieren mit solidarischer, selbstbewusster Bestimmtheit. Das beeindruckt mich.
Die zweite Chance liegt gerade in dieser Bestimmtheit. In ihr liegt eine Botschaft. Nämlich: Wo es um die Grundwerte geht, also um die Freiheit, die Menschenrechte und die Menschenwürde, da gibt es keine Kompromisse. Diese Werte sind unverhandelbar und unantastbar.
Diese Botschaft bringt das Wesen unserer Grundwerte zum Ausdruck: Es sind nicht nur unsere Werte sind. Es sind universale Werte. Es sind die Werte, die uns als globale Zivilgesellschaft verbinden, und die wir gemeinsam verteidigen wollen – gegen alle, die sie bedrohen.
Ukrainerinnen, Russen, Afghaninnen, Syrer…
Ich habe eingangs gesagt, es gebe Ereignisse, welche ganze Generationen prägen würden. Der Krieg in der Ukraine ist ein solches Ereignis. Wir erleben einen Angriff auf die Menschlichkeit. Diese Erfahrung hat unser Bewusstsein für die Universalität, für die Allgemeingültigkeit unserer Grundwerte über Nacht um ein Vielfaches verstärkt.
Umso mehr hoffe ich, dass die solidarische Entschlossenheit, mit der wir in diesen Tagen und Wochen zu unseren Werten stehen und die Opfer der russischen Aggression unterstützen, ausstrahlt – und zwar über die Ukraine hinaus.
Denn das ist nötig.
In vielen Konflikten weltweit ist das würde- und respektvolle gesellschaftliche Miteinander bedroht – oder sogar das explizite Ziel der Zerstörungswut einer Machtelite. Viele Menschen weltweit sind auf der Flucht, weil in ihrer Heimat Unfreiheit herrscht, weil die Menschenrechte missachtet und die Würde der Menschen mit Füssen getreten wird. Es sind Ukrainerinnen oder Russen, Afghaninnen oder Syrer, Libyer oder Eritreerinnen …
Deshalb wünsche ich mir, dass uns die Empörung und das Entsetzen, die wir aktuell erleben, motivieren. Dass sie uns die Dringlichkeit bewusst machen, weltweit Respekt vor den universalen Werten einzufordern – und gegenüber den Opfern solidarische Hilfsbereitschaft zu zeigen, auch gegenüber den Opfern aus weiter entfernten Weltgegenden.
Ich wünsche mir, dass uns das Grauen des Kriegs dauerhaft sensibel macht für die Bedeutung unserer Grundwerte – und solidarisch gegenüber allen, die nicht das Privileg haben, diese Werte leben zu dürfen.
Bild: “We stand with Ukraine” – in vielen Städten, auch in der Schweiz, gehen die Menschen auf die Strasse. (Quelle: Pixabay)
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