Corona setzte den Föderalismus einem heftigen Bashing aus. Doch das Problem ist nicht der Föderalismus als dezentral organisiertes Macht- und Entscheidungsgefüge. Das Problem sind die verwischten Kompetenzen zwischen den Kantonen und den Regierungskonferenzen. Hier braucht es Klärung.
Nach der Pandemie ist vor der Analyse. Klar, das Virus ist noch da und wird wohl auch da bleiben. Aber wir sind zurück in der normalen Lage. Damit ist der Moment gekommen, unser politisches Wirken während der zurückliegenden knapp zweieinhalb Jahre zu analysieren. Ein Bereich, der immer wieder Anlass zu intensiven Diskussionen gegeben hat, ist der Föderalismus. Dieser hatte in den letzten zwei Jahren einen schweren Stand.
Dabei stand die Lautstärke der Föderalismus-Kritik allerdings in einem merkwürdigen Kontrast zu ihrer Substanz. Gerade in der Ausnahmesituation einer Pandemie zeigten sich die Qualitäten der föderalen Struktur. Etwa deren Laborcharakter: In einem föderalen System können parallel verschiedene Lösungsansätze getestet werden. Das fördert die Innovation. Und so hatten denn auch viele kreative Ideen ihren Ursprung in den Kantonen, etwa die Bündner Massentests oder das Basler Dreidrittel-Modell für Geschäftsliegenschaften oder unser Zürcher Modell zur Unterstützung von Kulturschaffenden.
Der Föderalismus ist auch ein wirksames Instrument zur Beschränkung der Macht von Institutionen und Personen. Er zwingt alle Akteure zum Dialog. Die Argumente müssen offengelegt und die Absichten transparent gemacht werden. Das politische System steht dank dem Föderalismus unter ständiger Rechenschaftspflicht.
Demokratiedefizite
Gleichzeitig ist es aber tatsächlich so, dass das föderale System Schwächen hat. Und diese manifestierten sich in den Pandemiejahren deutlich. Die grösste Problemzone sind die horizontalen Strukturen. Um die Koordination zwischen den Kantonen zu erleichtern, gibt es zu allen Sachthemen sogenannte Konferenzen. Während der Pandemie war vorab die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) gefordert. Analog dazu gibt es für die Bildung die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) oder für den Sicherheitsbereich die Konferenz der Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Über allen steht dann noch die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK).
Diese Konferenzen sollen den Austausch und die Koordination zwischen den Kantonen fördern. Mit den sogenannten Konkordaten haben sie zudem die Möglichkeit, in die Rechtsordnung der Kantone einzugreifen. Das bekannteste Beispiel ist das Harmos-Konkordat, mit dem die EDK die Harmonisierung der Volksschule vorangetrieben hat.
Die kantonalen Parlamente stehen den Konkordaten meist skeptisch gegenüber. Ihnen bleibt nur noch, über den fertig ausgehandelten Vertrag zu befinden. Änderung können keine mehr vorgenommen werden. Hier zeigt sich ein erstes Demokratiedefizit der Konferenzen.
Ein zweites Demokratiedefizit rückte während der Pandemie ins Blickfeld. Die Konferenzen, vor allem die GDK, begannen plötzlich im Namen der Kantone zu sprechen. Dazu war diese jedoch nicht legitimiert. Wer nämlich im Vorstand der GDK sitzt und über die jeweiligen Positionierungen beschliesst, ist mehr oder weniger zufällig. Es ist also nicht so, dass die Haltung der GDK die Haltung der Kantone zum Ausdruck bringt. Die Meinung der Kantone wird durch die Beschlüsse ihrer Regierungen gebildet. Die Regierungen sind in allen 26 Kantonen vom Volk gewählt und widerspiegeln damit auch die unterschiedlichen Befindlichkeiten in den einzelnen Regionen. Die GDK war und ist also nicht das Sprachrohr der Kantone – auch wenn in der Öffentlichkeit dieser Eindruck bestand.
Vielmehr war das schwer durchschaubare Geflecht an kantonalen Konferenzen und die schwierige Abgrenzung zwischen den Aufgaben der Konferenzen und den Aufgaben der Kantone eine reich sprudelnde Quelle für Missverständnisse und Verwirrung. Und so ist es naheliegend, dass das Gefüge an sich, also der Föderalismus, in Verruf geriet.
Verwischte Kompetenzen
Naheliegend – aber falsch. Denn das Problem ist nicht der Föderalismus insgesamt als dezentral organisiertes Macht- und Entscheidungsgefüge. Das Problem sind die verwischten Kompetenzen. Daran müssen wir als Kantone arbeiten. Und zwar in zwei Punkten. Erstens: Konkordate sollen zurückhaltend beschlossen werden. Sie haben dort ihre Berechtigung, wo es eine Balance zwischen einer gewissen Harmonisierung mit gleichzeitigen Spielräumen für regionale Eigenheiten braucht. Wenn es wirklich um Einheitlichkeit geht, sind Bundesgesetze zweckmässiger und demokratischer. Und wo die Kantone ihre Souveränität behalten sollen, reichen Mustervorlagen der Konkordate.
Zweitens müssen sich die Konferenzen darauf beschränken, die Kantone bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen – erneut zum Beispiel mit Musterstellungnahmen. Sie dürfen aber nicht im Namen der Kantone die kantonalen Entscheidungsgremien übersteuern oder gar ersetzen. Hier ist der Bund gefordert. Will er sich ein Bild von der Haltung der Kantone machen, darf er sich nicht auf die Konferenzstellungnahme beschränken. Er muss sich die Mühe machen, die Regierungsbeschlüsse der Kantone in seine Entscheide einzubeziehen.
Hätte der Bundesrat nicht nur die Position der GDK, sondern auch jene der Kantone berücksichtigt, wäre es nicht zum «Terrassenstreit» gekommen. Denn schon vor dem Entscheid des Bundesrates war klar, dass die Bergregionen die Schliessung der Terrassen nicht mittragen werden.
Die ausserordentliche Lage überträgt kantonale Kompetenzen an den Bund. Sie sollte in einer nächsten Krise so lange andauern, bis der Zeitdruck so weit abgenommen hat, dass wieder eine sorgfältige Absprache zwischen Bund und Kantonen möglich ist. Das Zwischending – gemischte Kompetenzen, aber keine wirkliche Zusammenarbeit, weil die Zeit fehlt oder die Vorausschau nicht funktioniert – war die Schwachstelle in der Pandemiebekämpfung. Die Notlösung über die GDK hat nicht funktioniert.
Dieser Text erschien erstmals in der NZZ vom 12. Mai 2022.
Bild: Es braucht sorgfältige Absprachen zwischen dem Bund und den Kantonen. (Quelle Pixabay)
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