Alle Jahre wieder: Am Sechseläuten inszeniert sich das bürgerliche Zürich als Gestaltungsmacht mit Langzeittradition. Bloss ist dieses Selbstbild ziemlich weit von der Realität entfernt. Gestaltungswille und politische Ernsthaftigkeit finden sich aktuell vor allem links der Mitte. Vielleicht führt ja die Zustimmung zur 13. AHV-Rente dazu, dass die Bürgerlichen die Werte der Aufklärung wieder ernster nehmen.
Der Blick in die Welt war schon erfreulicher. Aktuell präsentiert sich uns ein ganzes Mosaik an Krisen.
Da ist – als grösste und umfassendste Gefahr – die Klimakrise. Da ist aber auch die real existierende Bedrohung der Demokratie: In den USA steht ein Präsidentschaftskandidat bereit, der sich gar nicht erst darum bemüht, seine Verachtung für die demokratischen Institutionen und rechtsstaatlichen Prozesse zu kaschieren. Und auch in Europa sollen gemäss Prognosen bei den bevorstehenden Europawahlen die Rechtsaussen-Parteien gewinnen – Parteien, für die Offenheit und Respekt nicht nur Fremd-, sondern Schimpfwörter sind.
Hinzu kommen die Krisen ganz in unserer Nähe – Krisen, die oftmals von aussen gar nicht sichtbar, für die Betroffenen aber schwer zu ertragen sind. Alleinerziehende Elternteile, die nicht wissen, wie sie das Geld für Miete und Krankenkasse zusammenbringen. Ältere Menschen, die nicht genug zum Leben haben. Junge Familien, die verzweifelt eine bezahlbare Wohnung suchen.
Dass die Kaufkraft in den letzten Jahren abgenommen hat, verschärft die Situation geringverdienender Menschen zusätzlich.
Wollen wir?
Nun hat dieses ganze, deprimierende Krisenpanorama einen Aspekt, an den wir uns klammern können und klammern sollen. Nämlich: Wir sind nicht machtlos. Bei all den aufgezählten Krisen handelt es sich um Krisen, die Menschen-gemacht sind. Und genau so, wie die Menschen sich selber in die Krisen geritten haben, haben sie es in der Hand, sich selber wieder daraus zu befreien. Wir haben die Mittel. Wir haben das Wissen. Wir müssen nur wollen.
Womit wir bei der entscheidenden Frage sind: Wollen wir?
Die Antwort ist wie oft bei schwierigen Fragen: zum Teil ja, zum Teil nein.
Der Kampf gegen den Klimawandel und für griffige Gesetze. Der Kampf für die Demokratie und gegen den Populismus von rechts. Das Bemühen, Mittel und Wege gegen Armut, Kaufkraftverlust und Wohnungsnot zu finden: Fast immer kommen die entscheidenden Anstösse von linken Parteien und Bewegungen. Sie begehren auf, mit Vorstössen in den Parlamenten, mit Initiativen, mit Demonstrationen, mit zivilgesellschaftlichen Aktionen.
Die linken Parteien werden damit ihrer historischen Verantwortung gerecht: Der Einsatz für Demokratie, Mitbestimmung, Gleichheit, Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt ist die Substanz der linken DNA. Mutige Menschen haben sich in schweren, schwierigen Auseinandersetzungen dafür eingesetzt – viele haben für diesen Einsatz einen hohen Preis bezahlt.
Die grosse Unübersichtlichkeit
Heute sind der Widerstand gegen den Autoritarismus, gegen die Erosion unserer rechtsstaatlichen Werte und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zwar in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Taktgeberin bleibt in diesem Engagement aber die Linke. Hier gibt es kein Zögern und kein Abwägen. Seit der Französischen Revolution ist der linke Kompass stabil auf Emanzipation und sozialen Fortschritt gerichtet.
Auf bürgerlicher Seite herrscht derweil die grosse Unübersichtlichkeit. Gewiss, auch die liberalen Kräfte haben historisch grosse Verdienste und wichtige Fortschritte erzielt. Aber auf jeden progressiven Liberalen kommt ein konservativer. Auf jede Bürgerliche, die sich für das CO2- oder das Stromgesetz einsetzt, kommt eine, die dagegen antritt. Auf jeden, der sich für die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte stark macht, kommt eine, die mit Rechtsaussen flirtet.
Woher kommt diese Ambivalenz? Ich glaube, sie folgt aus der relativierenden Haltung, die im bürgerlichen Lager so verbreitet ist: Freiheit ja, aber nicht zum Preis des Abbaus von Privilegien. Demokratie ja, aber nicht zum Preis der tatsächlichen Gleichheit. Rechtsstaat ja, aber nicht zum Preis eines Vorrangs des unabhängigen Rechts vor der beeinflussbaren Politik.
Es ist eben nicht so, wie immer wieder behauptet wird: Die alte Ordnung zwischen Links und Rechts ist nicht überholt! Es gibt grundsätzliche Unterschiede, hier die Ambivalenz der Bürgerlichen, dort die Ernsthaftigkeit der Linken. Die Linke meint es mit den Werten der Aufklärung ernst: Freiheit, Gleichheit, Solidarität!
Verlieren ist nicht einfach
Die wichtigen sozialen Fortschritte in unserem Land haben ihre Wurzeln links der Mitte. Ob AHV, Arbeitslosenversicherung oder Mutterschaftsversicherung, ob Verbesserungen für die Mieterinnen oder für die Prämienzahler: Immer standen am Anfang linke Impulse. Und immer übernahmen die Bürgerlichen früher oder später zumindest einen Teil der Ideen und verhalfen ihnen so zu Durchbruch.
Doch seit dem 3. März gilt diese Regel nicht mehr. Die 13. AHV-Revision kam ohne bürgerlichen Support zustande. Die Bürgerlichen haben den Taktstock nicht mehr in der Hand. Und das weckt Emotionen. Hässig beschimpfen sie das Volk und reden sich in Rage: wie unverantwortlich und egoistisch die Ja-Stimmenden doch seien!
Schon klar: Verlieren ist nicht einfach, zumal wenn man es sich nicht gewohnt ist. Was nichts daran ändert, dass das bürgerliche Gezeter erstens peinlich ist. Zweitens entlarvt es gnadenlos die erwähnte Ambivalenz: Demokratie ja, aber nur solange die Resultate nach dem eigenen Gusto sind. Das Volk soll bitte bescheiden bleiben und die eigenen Bedürfnisse hintenanstellen: Es reicht, wenn die Gutbetuchten ihrem Egoismus frönen und sich – sobald es nicht mehr so rund läuft – ohne Verantwortungsgefühl davonstehlen.
Die Linke will!
Ja, unsere Krisen sind Menschen-gemacht. Und ja, wir haben es in der Hand, uns selber aus der aktuell gefährlichen Situation zu befreien. Wenn wir denn wollen.
Die Linke will: 13. AHV-Rente, Prämieninitiative, Klimafondsinitiative, Wohnschutzinitiative im Kanton Zürich und der unermüdliche Einsatz für eine humanitäre Politik ohne Sündenböcke – all das trägt dazu bei, dass Freiheit, Gleichheit und Solidarität keine leeren Worte bleiben.
Es wäre schön, wenn auch bürgerliche Kräfte die Werte der Aufklärung wieder ernster nehmen würden. Falls nicht, muss die Linke beim Volk halt ohne bürgerlichen Support Mehrheiten zu schaffen versuchen. Bei der 13. AHV-Rente hat es ja schon mal geklappt.
Foto: Dunkle Wolken über dem Sechseläutenplatz – ein Sinnbild für die bürgerliche Schweiz. (Quelle: PD)
Jose Antonio Gordillo Martorell schrieb
Wie Geoff Eley in seinem Buch “Forging Democracy” brillant dargelegt hat, sind die historische Entwicklung der europäischen Demokratie und die Geschichte der europäischen Linken untrennbar miteinander verbunden. Sie organisierten Zivilgesellschaften, die in egalitären Idealen verwurzelt waren, welche die Grundlage für die heutigen demokratischen Traditionen in Europa bilden. Wir müssen an diesen historischen Hintergrund anknüpfen, um heute eine ansprechende und faszinierende Geschichte/Storytelling zu erzählen, die in der Lage ist, jeden willkommen zu heißen, zu unterstützen und zu respektieren.