Kaum haben die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU begonnen, tobt schon Streit. Die Gewerkschaften sind erzürnt und wollen sich aus den Verhandlungen zurückziehen – was all jenen entgegenkommt, die schon jetzt einen Schuldigen suchen für ein allfälliges Scheitern der Verhandlungen. Der Verhandlungsstart hat mich zu einer kleinen Medienschau animiert – sie ist so erhellend wie frustrierend.
Die Geschichte erschien zuerst in der NZZ: Die Zeitung meldete, die Gewerkschaften seien in Begriff, sich aus den Gesprächen zu verabschieden, welche im Inland die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU begleiten sollen. An diesen Gesprächen mit Vertretenden von Sozialpartnern und Bundesrat geht es um die Frage, welche innenpolitischen Massnahmen allfällige Zugeständnisse der Schweiz an die EU kompensieren sollen.
Inzwischen haben auch andere Medien die Wut der Gewerkschaften zum Thema gemacht, etwa die Tamedia-Zeitungen oder die Republik.
Was passiert da gerade? Ganz genau wissen es nur die direkt Involvierten, man kann aber doch ein paar Vermutungen anstellen. Und ein paar Erkenntnisse gewinnen.
Ein Powerplay
Klar ist: Der Fokus dreht auf die Innenpolitik. Denn entschieden wird der Match um das Verhältnis zur EU über die innenpolitischen Massnahmen. Sie machen das Abkommen «Schweiz-tauglich». Hier – in den erwartungsgemäss schwierigen Verhandlungen der Sozialpartner über diese Massnahmen – läuft aktuell ein Powerplay. Dabei liegt es in der Natur von Verhandlungen, dass sich niemand in die Karten blicken lässt. Alle Beteiligten wollen für ihre Seite das Maximum herausholen. Dabei gehört es zum Einmaleins der Verhandlungsführung, erst einmal Druck aufzubauen. Der Kompromiss kommt später.
Dass ausgerechnet die NZZ das Drohen von linker Seite zum grossen Thema macht, ist freilich kaum Zufall. Es dürfte sich dabei vor allem um eine Absicherung für den Fall der Fälle handeln: Falls der neue Vertrag mit der EU an innenpolitischen Widerständen scheitern sollte, wäre die Identifizierung der Schuldigen bereits vorgespurt – der Schwarze Peter ginge nach links, zu den Gewerkschaften. Die Schlagzeile würden lauten: «EU-Vertrag scheitert an den sturen Gewerkschaften».
Könnte es sein, dass diese prophylaktische Schuldzuweisung der Versuch eines Ablenkungsmanövers ist? Die «Republik» hat die unangenehme Realität, von der man auf bürgerlicher Seite ablenken möchte, benannt: «Wo sind die Parteien, Verbände und Bundesräte, die die Chancen betonen, die ein geregeltes Verhältnis böte?» Die zum Beispiel «darauf hinweisen, dass Schweizer Firmen auf Marktzugang und Rechtssicherheit angewiesen sind?»
Das wahre Problem
Damit sind wir beim wahren Problem der innenpolitischen Verhandlungsrunde angekommen: Den Gewerkschaften fehlt ein ebenbürtiges Gegenüber. Wo bleiben die starken, kreativen, klugen Köpfe von einst, die mit den Gewerkschaften auf Augenhöhe verhandeln konnten? Wo sind ein Arbeitgeberpräsident oder eine Economiesuisse-Direktorin, die wissen, dass Verhandlungen ein Geben und Nehmen sind? Wo bleibt der Gewerbeverband mit den Tausenden von KMU, die in Sachen ausländischem Lohndumping vor denselben Herausforderungen stehen wie die Arbeitnehmenden?
Und wo bliebt auf bürgerlicher Seite die simple Erkenntnis, dass die Menschen nur dann ein Ja auf den Stimmzettel schreiben, wenn die wirtschaftspolitische Öffnung sozialpolitisch abgesichert ist? Und schliesslich: Wie lange geht es noch bis zur Einsicht, dass der Hinweis auf die Bedenken vieler Menschen in der Schweiz keine gewerkschaftliche Drohung ist, sondern bloss die Herausforderung benennt, vor der wir innenpolitisch stehen.
Dabei gibt es durchaus Akteure, welche die nötige politische Sensibilität besitzen und erkennen, welche Schritte nötig wären. So schrieb der (nicht für besonders ausgeprägte gewerkschaftliche Sympathien bekannte) Chefredaktor der Sonntagszeitung in seinem Editorial: «Was es braucht, damit sich der Knoten löst, weiss man seit Jahren. Die Arbeitgeber müssen den Gewerkschaften Zugeständnisse machen bei der Allgemeinverbindlichkeit von Gesamtarbeitsverträgen. Das würde in der Sache helfen, Lohndumping zu verhindern.»
Chefredaktor Rutishauser macht das, was man eigentlich von den Vertreterinnen von Wirtschaft und Arbeitgebern erwartet: Er wägt ab. Und kommt zum Schluss: Zugeständnisse bei der Allgemeinverbindlichkeit würden «die Vertragsfreiheit und das liberale Arbeitsrecht einschränken. Das mag man bedauern – aber wenn die Wirtschaft zu dieser Konzession nicht bereit ist, dann kann man die Übung abbrechen.»
Näher zu den Menschen!
Und um meine kleine Medienschau noch um einen Beitrag zu erweitern: Dieselbe NZZ, welche das Drohen der Gewerkschaften zum Thema gemacht hatte, widmete sich nach dem Ja zur 13. AHV-Rente der Frage, was die Bürgerlichen tun müssen, damit sie wieder zum Erfolg finden.
Die Antwort: «Die Bürgerlichen müssen wieder näher zum Bürger». Das ist nun nicht unbedingt eine weltbewegende Erkenntnis, aber sie ist sicher nicht falsch. Wobei Nähe allein noch nicht viel bringt. Wer ernsthaft nahe an den Menschen sein will, muss ebenso ernsthaft bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.
Man kann von den Gewerkschaften halten, was man will. Aber eines ist sicher: Sie übernehmen Verantwortung. Sie fühlen sich dafür verantwortlich, die Interessen und Anliegen der Arbeitnehmenden zu vertreten. Sie stehen hin, und sie kämpfen.
Wo ist das Pendant auf bürgerlicher Seite? Wer übernimmt dort Verantwortung? Und wächst damit in die Rolle einer starken, glaubwürdigen Leaderin? Ich sehe niemanden.
Bürgerliche Widersprüchlichkeit
Dass es auf bürgerlicher Seite diese Leerstelle gibt, hat mit der Widersprüchlichkeit bürgerlicher Politik zu tun.
Wenn die bürgerlichen Parteien einerseits durchs Land ziehen, um gegen die 13. AHV-Rente zu wettern und vor den Kosten zu warnen – und andererseits im Parlament dafür stimmen, dass mit der Familienstiftung ein Konstrukt reanimiert wird, das aus dem Ancien Régime stammt, nun rund hundert Jahre lang verboten war und hauptsächlich dazu dient, Superreichen ein massgeschneidertes Instrument zu verschaffen, mit dem sie ihr Vermögen steueroptimiert bewirtschaften können: Dann ist das einfach nur ziemlich peinlich – und das radikale Gegenteil von Verantwortungsbewusstsein und von Nähe zu den Menschen.
An den Taten sollst du sie messen. Und diese lassen in den vergangenen Jahren nicht viel Interpretationsspielraum: Es geht den tonangebenden Bürgerlichen nicht darum, die Lebensumstände aller zu verbessern. Es geht ihnen vielmehr darum, die ohnehin Privilegierten noch privilegierter zu machen.
Für die Schweiz geht es bei den Verhandlungen mit der EU um ziemlich viel. Das letzte Wort werden wohl die Stimmberechtigten haben. Sie kann man nicht mit Schulzuweisungen überzeugen. Sondern nur mit einer Politik, die den Vertrag mit der EU innenpolitisch nahe an den Menschen umsetzt.
Noch glauben die bürgerlichen Parteien und Verbände, es reiche, mit dem Finger auf die fordernden Gewerkschaften zu zeigen und sich weiter um die eigenen Interessen zu kümmern. Höchste Zeit, dass einige aufwachen und Verantwortung übernehmen.
Wo ist dieses bürgerliche Gegenüber der Gewerkschaften?
Foto: Die NZZ fordert mehr Bürgernähe? Schadet sicher nicht, reicht aber gewiss nicht. (Bild: PD)
Matthias schrieb
Mir fällt auf, dass die sogenannt Bürgerlichen fast durchgehend finanztaktisch und budgettheoretisch argumentieren (dann aber alle Scham fallen lassen, wenn grosses Kapital geschützt werden muss). Es scheint an einer gesellschaftlichen Vision zu fehlen. Eine Richtschnur dafür, was es heisst, in der Schweiz mit Sinn und glücklich zu leben. Liberal ist neoliberal geworden, und jeder Wert ist ein finanzieller. Eine Beschäftigung mit Ideen gibt es leider kaum mehr.