Seit dem letzten Sonntag um zirka Halbeins in der Früh dominiert in den Schweizer (und nicht nur in den Schweizer…) Medien vor allem ein Thema: Nemo und der Sieg von «The Code» am European Song Contest. Die grosse Frage ist nun: Wie lässt sich der binäre Code politisch knacken?
Keine Sorge: Es geht mir nicht darum, mich – arg verspätet – auch noch in den Nemo-Fanclub einzureihen. Obwohl ich natürlich kein Geheimnis draus mache: Ich habe mich über den Triumph sehr gefreut und gratuliere Nemo von Herzen.
Dass ich diese Zeilen hier schreibe, liegt daran, dass in Nemos Lied und in der Tatsache, dass dieses gewonnen hat, eine politische Botschaft liegen: Es geht um Non-Binarität und um die Frage, wie wir damit umgehen. Dass Nemo die Gunst der Stunde nutzt, um für das Anliegen einer besseren Verankerung des dritten Geschlechts breit zu werben, ist dabei selbst eine Botschaft. Sie bringt zum Ausdruck: Nemo hat nicht nur musikalisches, sondern auch politisches Talent.
Es ist immer faszinierend zu beobachten, welche Dynamik entstehen kann, wenn ein Thema vom Schub eines Momentums profitiert – und wenn dessen Fürsprecher:innen das Momentum zu nutzen verstehen.
Das Thema der dritten Option war lange ein Nischenthema – bis es zuerst dank Kim de l’Horizons «Blutbuch» und nun, noch breitenwirksamer, dank Nemos ESC-Triumphs zum Grossthema wurde. Plötzlich steht das dritte Geschlecht ganz oben auf der Agenda. Plötzlich kommentieren und analysieren die Medien, orten Handlungsbedarf und formulieren Forderungen.
Wie kommt der Fortschritt in Gang?
Handlungsbedarf besteht tatsächlich.
Der Bundesrat hat sich Ende 2022 gegen die rechtliche Anerkennung des dritten Geschlechts ausgesprochen. Er begründete seine Haltung damit, dass die Gesellschaft noch nicht bereit sei zu diesem Schritt.
Was insofern eine etwas erstaunliche Argumentation ist, als andere Länder hier schon viel weiter sind. So ist es in Deutschland seit 2018 möglich, als Geschlecht «divers» in den Pass eintragen zu lassen. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir gesellschaftspolitisch so viel rückständiger sind als unsere Nachbarn.
Was mich zur Frage führt: Wie bringen wir auch bei uns den Fortschritt in Gang?
Grosser Wurf oder Etappen?
Es gibt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Die eine ist die grosse, umfassende Variante – also die Ambition, in einem Schritt alles zu ändern, was heute noch nach binärer, also Mann-Frau-Logik riecht. Die NZZ stellt als Spielart dieser Option den «radikalliberalen Ansatz» zur Diskussion: die Abschaffung aller Geschlechter.
Es ist hier wie so oft in der Politik: Wer den ganz grossen Wurf predigt, wirkt zwar auf den ersten Blick visionär, ist aber in Tat und Wahrheit ein gut getarnter Verhinderer. Den grossen Wurf zu realisieren, hiesse, auf eine ganz Reihe anspruchsvoller und umstrittener Fragen subito Antworten zu finden – etwa bei den Sozialversicherungen oder bei der Militärdienstpflicht.
Solche Antworten zu finden, muss unser Ziel sein. Wir werden aber nicht von heute auf morgen Erfolg haben. Wenn ich nur schon dran denke, wie lange wir uns nun bereits für die vergleichsweise kleine Reform einer Individualbesteuerung einsetzen…
Aus Erfahrung wissen wir: Wem es nur um visionäre Rhetorik geht, der wählt die radikalen Parolen. Wer tatsächlich Fortschritt erzielen will, muss ein Gespür für die richtige Schrittlänger und für das angemessene Tempo haben.
Oder anders rum: Wer will, dass sich sicher nichts ändert, macht die Ambition maximal gross. Wer fordert, dass alle Fragen in einem einzigen Aufwisch geklärt werden, überlädt das Fuder hoffnungslos. Und das ist der sichere Tod jeder Veränderung.
Eintrag unter Vorbehalt
Deshalb Variante zwei: Wir sollten den Fortschritt etappieren. Schritt für Schritt. Übrigens brauchte der Fortschritt auch in Deutschland mehrere Etappen. Am Anfang stand ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2017, das Verbesserungen für intersexuelle Personen verlangte. Ende 2018 stimmte der Bundestag dafür, den Geschlechtseintrag «divers» zu ermöglichen. Eine wirklich befriedigende Lösung bringt aber erst das deutsche Selbstbestimmungsgesetz, das der Bundestag vor wenigen Wochen beschlossen hat und das im kommenden November in Kraft tritt.
In der Schweiz könnte man sich als erste Etappe vorstellen, dass non-binäre Menschen die Möglichkeit erhalten, ihre Geschlechtsidentität ins Personenstandsregister und damit auch in ihren Pass einzutragen – allerdings unter dem Vorbehalt, dass es Bereiche gibt, die noch binär aufgestellt und nicht für eine dritte Option eingerichtet sind.
Solche Bereiche wären bis auf weiteres die Sozialversicherungen und die Militärdienstpflicht, aktuell verfügen aber auch die meisten Spitäler oder Justizvollzugseinrichtungen noch nicht über spezifische Angebote für non-binäre Menschen.
Deshalb müsste zumindest übergangsweise zu einem diversen Geschlechtseintrag ein Eventualeintrag gehören, mit dem non-binäre Menschen erklären, ob sie gegebenenfalls als Frau oder als Mann behandelt werden möchten.
Glück und Klugheit
Darüber hinaus gilt es, all jene Bereiche zu identifizieren, wo niederschwellig und ohne gesetzliche Anpassung das dritte Geschlecht eingeführt werden kann – beziehungsweise wo auf die Abfrage des Geschlechts ohne weiteres verzichtet werden kann.
Hierbei wird hoffentlich auch der Bericht des Bundesrats hilfreich sein. Der Nationalrat hatte im letzten Herbst ein Postulat der Kommission für Rechtsfragen überwiesen, welches die Regierung dazu aufforderte, Massnahmen aufzuzeigen, die die Situation von non-binären Menschen innerhalb des bestehenden rechtlichen Rahmens verbessern.
Das rundum gesetzlich verankerte dritte Geschlecht muss das Ziel sein – und ich bin davon überzeugt, dass wir dieses Ziel erreichen. Aber den Weg dorthin müssen wir in mehreren Schritten gehen.
Erfolgreiche Politik ist eine Kombination von Glück und Klugheit. Glück ist, wenn im richtigen Augenblick der richtige «Game Changer» auftritt. Klugheit ist, wenn man dieses Geschenk richtig einsetzt – und die richtigen Forderungen stellt. Also den Stein genug weit wirft, damit klar zum Ausdruck kommt: Da sind Veränderungswille und Gestaltungsanspruch und Engagement vorhanden – da soll sich wirklich etwas bewegen. Aber nicht derart weit, dass das Projekt grad schon von Beginn weg unter «Komplett unrealistisch»-Verdacht steht.
Bild: Nemo auf allen Kanälen (Foto PD)
Kathrin Cooper schrieb
Statt dass wir uns nun um die Akzeptanz eines offiziellen dritten Geschlechts bemühen – warum drei? warum nicht sechs, sieben, acht? – täten wir besser daran, die Geschlechterfrage ganz in den Hintergrund zu stellen. Dann wären wir der Gleichberechtigung näher. Ansonsten bleiben wir dem Sexismus verhaftet.
Raas schrieb
In meinem Pass von 1982 gibt es keine Rubrik für das Geschlecht. Auch in meiner ID von 1991 findet sich kein Geschlechtseintrag.
Redaktion schrieb
In den aktuellen Dokumenten – Pass und ID – hat es einen Geschlechtseintrag.