
Jetzt ist es offiziell: Der Bundesrat und die EU wollen über ein Paket von neuen und erneuerten Verträgen verhandeln. Entscheiden wird am Ende die Bevölkerung und diese sagt Ja zum Paket, wenn den Menschen daraus keine Nachteile erwachsen. Das bedeutet: Ohne sozialpolitische Absicherungen gibt es keine Mehrheit für den europapolitischen Fortschritt.
Der Auftritt von gleich drei Bundesrät:innen an der Medienkonferenz brachte zum Ausdruck: Es ist wieder Bewegung im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU. Die Regierung hat den Entwurf für ein neues Verhandlungsmandats verabschiedet. In zwei bis drei Monaten soll das definitive Mandat vorliegen. Dann beginnen die Verhandlungen zwischen dem Bundesrat und der EU-Kommission offiziell. Ziel ist ein Paket von neuen und erneuerten bilateralen Verträgen – und damit eine stabile, gefestigte Grundlage für unsere Beziehungen zur Europäischen Union.
Mit dem Mandatsentwurf ist zwar noch nichts gewonnen. Nach den europapolitisch komatösen letzten Jahren bin ich aber schon glücklich, dass wenigstens der Stillstand überwunden ist.
Nimmt man die vom Bundesrat präsentierten Ergebnisse der Vorverhandlungen zum Massstab, so darf man bezüglich der Schlussresultate des Verhandlungsprozesses durchaus zuversichtlich sein. Die EU ist flexibler und konzilianter als es der Ruf vermuten lässt, den die Union in der Schweiz hat. Dass es um den Ruf nicht zum Besten steht, ist nicht weiter erstaunlich. Dieser ist ja kein realistisches Abbild der Arbeit, welche die EU-Institutionen leisten, sondern das Produkt von innenpolitischen Motiven und Kampagnen.
Mich stimmt es jedenfalls optimistisch, dass der Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» Konsens ist. Positiv ist auch, dass die EU der Schweiz auf der Basis dieses Prinzips eine «Non-Regression Clause» anbietet. Diese soll sicherstellen, dass der Lohnschutz nicht hinter das Erreichte zurückfällt. Auch in anderen sensiblen Bereichen scheint man auf gutem Weg zu sein.
Mit Blick nach Bern
Gleichzeitig ist allen klar: Es wird kein Verhandlungsergebnis geben, das alle unsere Wünsche erfüllt. Verhandlungen sind ein Geben und Nehmen. Wenn wir Teil des europäischen Binnenmarkts sein wollen, müssen wir uns an die Spielregeln halten, die dort gelten. Wir werden bei einigen Streitfragen Sonderregeln aushandeln können, werden aber bei anderen nachgeben müssen.
Alle Kräfte in diesem Land, die den europapolitischen Fortschritt wollen und die sich bewusst sind, wie immens wichtig ein neues Vertragspaket für unser Land und unsere Zukunft ist – alle diese Kräfte von links bis rechts tun deshalb gut daran, ihren Blick statt nach Brüssel nach Bern zu richten.
Denn ob wir ein neues Vertragspaket ins Ziel bringen, haben wir in der eigenen Hand. Europapolitik ist zwar in den Details komplex und kompliziert. Im Kern ist sie aber einfach: Der Bundesrat verhandelt. Die Bevölkerung entscheidet. Sie sagt Ja, wenn den Menschen aus der Annäherung zu Europa keine Nachteile erwachsen. Mehr Öffnung gibt es nur gegen mehr Sicherheit. Diese Gleichung galt schon immer und gilt auch in Zukunft.
Und für diese Sicherheit – also für die Absicherung der Bevölkerung – müssen wir selber sorgen. Hier bei uns, mit einem Swisslex-Paket.
Swisslex-Paket ohne Alternative
Dabei ist absehbar, dass wir Linken die treibende Kraft und die Ideengeberinnen eines solchen Pakets werden sein müssen. Denn die Wirtschaftsverbände haben noch immer nicht begriffen, dass sie kreativ werden und sich bewegen müssen. Ja: Müssen!
Es geht nicht darum, ob, man flankierende Massnahmen gut oder schlecht findet, ob man sie will oder nicht will. Solche Fragen sind müssig, weil es gar keine Alternative gibt. Ein neues Vertragspaket mit der EU hat in der Volksabstimmung nur eine Chance, wenn es von einem wirkungsvollen, zuverlässigen Reformpaket begleitet wird.
Es gibt ein Ja zu mehr Öffnung und mehr Konkurrenz, wenn die Menschen die Gewissheit haben, dass nicht sie die Rechnung bezahlen – etwa beim Lohn oder bei den Chancen auf dem Stellenmarkt.
Wir brauchen also konkrete Antworten auf konkrete Fragen. Zum Beispiel: In welchen Branchen braucht es zusätzliche Mindestlöhne? Wo sind mehr allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge nötig? Mit welchen Massnahmen können wir die sinkende Kaufkraft kompensieren? Wie dämpfen wir über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf den Fachkräftemangel? Und was machen wir mit den Menschen in der Schweiz, die sich an den Rand gedrängt und abgehängt fühlen?
Es ist der Auftrag an alle gestaltungswilligen Kräfte in unserem Land, sich diesen Fragen anzunehmen. Es führt kein Weg daran vorbei.
Neuer Effort für altes Bündnis
Unsere Wirtschaft, unsere Wissenschaft, unsere Kultur: Sie alle brauchen dringend ein stabiles, geregeltes Verhältnis mit der EU. Doch dieses stabile, geregelte Verhältnis kommt nicht von alleine. Es braucht einen Effort. Und es ist auch klar, welchen Effort: Über Jahrzehnte bestimmte das Bündnis zwischen Freisinn und Sozialdemokratie, zwischen Gewerbe und Gewerkschaften die Europapolitik der Schweiz. Mehr Öffnung gegen mehr Sicherheit: Das war der Deal. Wenn es neue Abkommen mit der EU geben soll, dann muss dieser Deal neu geschlossen werden.
Man kann diese Realität verdrängen. Man kann sie beklagen. Doch das hilft alles nicht weiter. Es sind ja nicht die Gewerkschaften oder die Wirtschaftsverbände, die die Stimmzettel ausfüllen. Es sind die Stimmbürger:innen. Und diese wollen die Versicherung, dass «mehr Europa» nicht zu ihren Lasten geht, sondern zu ihren Gunsten ist.
Foto: Bald verhandelt die Schweiz wieder offiziell mit der EU (Quelle: Pixabay)
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