Heute ist ein guter Tag. Im Kanton Zürich ist die ausserordentliche Lage Vergangenheit, auch landesweit wird dies bald der Fall sein. Bleibt die Frage: Was lehrt uns die Pandemie? Ich glaube: Vor allem lehrt sie uns, wie wertvoll Vertrauen ist – und Gleichheit.
Die Bilder, die uns in den letzten Wochen aus Rom, Paris oder New York erreichten, haben bei mir eine Mischung aus Faszination und Beklemmung ausgelöst. Das Kolosseum, der Eiffelturm, der Times Square – lauter Orte, an denen ich auch schon war, jeweils zusammen mit Tausenden von anderen Touristinnen und Touristen. Und jetzt: menschenleer, kein Leben, gespenstische Ruhe. Vielerorts mussten die Behörden in ihrem Kampf gegen die Corona-Pandemie zur Ultima Ratio greifen: zur Ausgangssperre. Es ist eine Massnahme, die für freiheitlich-demokratisch geerdete Menschen nur schwer verdaulich ist.
Der Schweiz blieb die Ausgangssperre erspart. Der Bundesrat verzichtete darauf – und dies, obschon die Schweiz zeitweise zu den Ländern mit der höchsten Infektionsrate gehörte. Im Rückblick zeigt sich: Der Verzicht war der richtige Entscheid. Die Fallzahlen sanken auch ohne Radikalkur.
Ist der Bundesrat eine riskante Wette eingegangen – und hat dabei glücklicherweise gewonnen? Nein! Ich bin davon überzeugt: Der Bundesrat hat nicht auf Risiko gespielt. Er hat sich nur ganz nüchtern vergegenwärtigt, was uns in unserem Land stark macht – und entsprechend gehandelt.
Weniger Ungleichheit, weniger Entfremdung
Was macht uns stark? Vor allem dies: Unsere Gesellschaft ist zwar bunt, vielfältig und divers, doch über alle Differenzen und Spannungen hinweg besteht ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Ich bin keine Romantikerin. Ich rede die Mängel und Unzulänglichkeiten in unserem System nicht weg. Ich weiss um das Gefälle zwischen Viel- und Wenigverdienenden. Und doch: Die Einkommensverteilung ist in der Schweiz nach wie vor weniger ungleich als anderswo. Damit ist auch die Entfremdung innerhalb der Gesellschaft weniger ausgeprägt als anderswo.
Eine intakte, vergleichsweise gleiche Gesellschaft ist ein unschätzbar wertvolles Kapital (das in den letzten Jahrzehnten – ich darf das kurz loswerden, nicht? – vor allem wir Linken gehegt, gepflegt und geäufnet haben, indem wir den Sozialstaat verteidigten und den privatisierten Bereicherungsstaat verhinderten). Warum ist eine solche Gesellschaft so wertvoll? Weil sie Vertrauen ermöglicht. In ihrem bemerkenswerten Buch «Die Vertrauensfrage» zeigen die Soziologen Jutta Allmendinger und Jan Wetzel, was es braucht, damit in einer Gesellschaft Vertrauen wachsen kann: Austausch – und zwar dergestalt, dass sich unterschiedliche Menschen auf Augenhöhe begegnen. Ein solcher Austausch sei nur möglich, wenn innerhalb der Gesellschaft die Ungleichheit begrenzt sei.
Vertrauen als Kitt
Damit komme ich zurück zur Ausgangssperre – beziehungsweise zum schlichten Grund, weshalb wir uns diese ersparen konnten. Er heisst: Vertrauen. In einer Gesellschaft, in der erstens die Regierung der Bevölkerung vertraut, dass sie die Verhaltensvorgaben ernst- und gewissenhaft befolgt – und zwar aus Einsicht, Überzeugung und Selbstverantwortung. In der zweitens die Bevölkerung der Regierung vertraut, dass sie die Verhaltensvorgaben mit Augenmass und Sinn für die Verhältnismässigkeit erlässt. Und in der drittens die Menschen sich gegenseitig vertrauen, dass jede und jeder zur Bekämpfung der Pandemie beiträgt – in einer solchen Gesellschaft braucht es keinen autoritären Behörden-Durchgriff.
Vertrauen ist der Kitt einer Gesellschaft. In einigermassen gleichen Gesellschaften kann es gedeihen. Ungleichheit untergräbt derweil das Vertrauen. Doch damit nicht genug: Mit Blick auf die Corona-Pandemie legt eine «Spiegel»-Recherche eine weitere Auswirkung von Ungleichheit frei: Diese sei – neben den hinlänglich bekannten – ein zusätzlicher Covid-19-Risikofaktor.
Über zwei Millionen Infizierte in den USA, bald eine Million in Brasilien, über 300’000 in Grossbritannien: In vielen Teilen der Welt seien die Covid-19-Fallzahlen in jenen Ländern und Regionen am höchsten, in denen die Kluft zwischen Arm und Reich am grössten sei, schreibt das Magazin. Es gelte die Formel, dass ungleiche Gesellschaften ungesunde Gesellschaften seien.
Abstand – und Anstand
Die «Spiegel»-Autoren beziehen sich auf eine Studie britischer Gesundheitswissenschaftler. Diese kämen zum Schluss, dass eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung in direkter Beziehung stehe zu Problemen wie Depression, Drogenabhängigkeit und hoher Suizidrate. Je ungleicher die Verteilung, umso grösser die Probleme – und zwar in allen sozialen Schichten. Ausserdem würden in Ländern mit ausgeprägter Ungleichheit mehr Menschen an Übergewicht und Atemwegserkrankungen leiden – beides sind Corona-Risikofaktoren.
Ungleichheit ist ungesund – und sie ist ganz besonders ungesund für jene, die in ungleichen Gesellschaften unten stehen. Dass in den USA wie in Grossbritannien weit mehr Schwarze als Weisse an Covid-19 sterben, bringt diesen Umstand zum Ausdruck. Jeder kann am Corona-Virus erkranken – tatsächlich tun es aber vor allem Arme und Unterprivilegierte.
Der Kampf gegen die Pandemie darf daher nicht nur ein medizinischer sein. Er muss auch ein sozialer sein. Die Corona-Erfahrung muss uns in unserer Überzeugung bestärken, weiter gegen die Ungleichheit und für eine faire, gerechte Gesellschaft anzukämpfen.
Dass Abstand gegen Covid-19 hilft – das wissen wir inzwischen. Doch mit Abstand allein wird die Welt nicht besser – wir sollten die Worte von Pest-Arzt Dr. Rieux beherzigen, der in Albert Camus’ Seuchen-Roman «Die Pest» unbeirrt den Kranken und Sterbenden hilft. Und dazu sagt: «Bei alldem handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.»
Bild: Wo die Bevölkerung der Regierung vertraut und die Schutzmassnahmen aus Einsicht mitträgt, braucht es keine Radikalmassnahmen. (Quelle: Pixabay)
Kaspar Zimmermann schrieb
Jacquelien Fehr, Sie schreiben im Mail, dass ‘uns’ Corona “ziemliche unvorbereitet getroffen” hätte. Das stimmt so nicht! Vor rund 30 Jahren begann die Planung dazu. Daher wird auch offen von PLANdemie gesprochen! 2012 haben BAG und BR die Pandemie ‘geübt’ (Interview im Radio DRS!)! Dito die Bundesregierung in D. Ich selbst habe am 29.2.2012 einen beleuchtenden Bericht zum PrävG und EpG z.Hd. der Räte und BR verfasst, worin ich bezüglich Pandemie darauf aufmerksam machte, dass man eine Pandemie nur mit Panikmache erzeugen kann. Man kann sich nämlich nicht anstecken, auch mit einem Virus nicht! Das Covid-19 Risiko ist somit die ‘Unfähigkeit’ (Willenlosigkeit) grosser Teile der Bevölkerung, die Angst, ein (Schulmedizin-)Märchen glauben zu müssen, nicht los zu lassen. Die PLANdemie ist rechtlich gesehen ein Kriegsverbrechen der Regierung gegen die ‘eigene’ (‘versklavte’) Bevölkerung! Kaspar Zimmermann, zim.aeo@bluewin.ch
Hansjoerg Mueller schrieb
Ich habe auch ein Papier vom Deutschen Bundestag zugespielt bekommen von 2012, wo diese Pandemie als Folge von SARS-1 schon mal geplant wurde – und siehe da: das Ganze dauert 1048 Tage, also 3 Jahre – wer also jetzt glaubt es sei vorbei der ist schlecht informiert. die Politik hat die nächste Ueberraschung schon bereit
Simon Spengler schrieb
Offene Kommunikation und Meinungsaustausch tragen auch zur Vertrauensbildung bei. Finde deshalb diesen Blog wegweisend. Hoffe, hier noch viele Beiträge der Regierungsräte lesen zu dürfen. Beiträge in einem gleichberechtigten, partizipativen politischen Diskurs.
Hanspeter Meyer schrieb
Eine sehr gute Einschätzung liebe Jacqueline Fehr, die ich grösstenteils teile. Was mir allerdings zu denken gibt, dass nun in der Schweiz nach dem Lockdown für viele Menschen scheinbar alles wieder beim alten ist:
– kaum Masken im ÖV
– Massenansammlungen bei den Demos
– Social Distancing oft nicht eingehalten
Ob wir dies alle bezahlen werden, wird sich wohl bald zeigen, ich hoffe es nicht…
In diesem Sinne, bleiben Sie gesund und wenn Sie mal Zeit und Lust haben:
Das grösste und nachhaltigste Orchideenparadies hält nach wie vor alle Corona-Regeln ein…
Herzlichst
Hanspeter Meyer, Meyer Orchideen – ORCHIDEEN MIT HERZ, Wangen-Brüttisellen ZH
Kurt Seifert schrieb
Eine zentrale These von Jacqueline Fehr lautet, dass weniger Ungleichheit auch zu weniger Entfremdung führe. Dieser These pflichte ich bei. Allerdings ist das Argument, die Verteilung finanzieller Ressourcen sei in der Schweiz weniger ungleich als in anderen Ländern, nur dann zutreffend, wenn einzig die Einkommensverteilung betrachtet wird. Bei der Verteilung der Vermögen sieht dies ganz anders aus: Bei der Verteilung der Vermögen ist der Gini-Index mit 0,73 sehr hoch – d.h., die Vermögensverteilung ist sehr ungleich. (In den USA liegt dieser Wert allerdings noch höher, bei 0,87, während in den Euroländer die Vermögenskonzentration tendenziell geringer ist. Ich stütze mich dabei auf Daten in einem Beitrag der “Republik”: republik.ch/2019/10/28/gleiche-einkommen-ungleiche-vermoegen.)
Wenn wir uns für mehr Gerechtigkeit einsetzen wollen, müssen wir auch das Thema der Vermögenskonzentration in der Schweiz ansprechen. Diese wird vor allem durch den Prozess der Vererbung vorangetrieben. Dort muss angesetzt werden – beispielsweise durch die Einführung einer nationalen Erbschafts- und Schenkungssteuer. Vor fünf Jahren wurde eine entsprechende Volksinitiative leider deutlich abgelehnt – doch das sollte uns nicht davon abhalten, es wieder zu versuchen!
Redaktion schrieb
Du hast Recht: Tatsächlich ist die Vermögensverteilung in der Schweiz sehr ungleich. Zwar ist man sich in der Wissenschaft uneins, wie genau die Ungleichheit gemessen werden soll – je nach Art der Berechnung ist sie etwas mehr oder weniger ausgeprägt. Aber (und das ist der Kern der Sache): Egal wie man rechnet – die Vermögen sind in der Schweiz in einem Mass ungleich verteilt, das wir nicht akzeptieren können. Und das für uns linke Politikerinnen und Politiker ein zentraler Auftrag bleiben muss: Wir müssen weiterhin mit Kraft und Leidenschaft für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen (wozu – neben dem Einsatz für eine gerechtere Vermögensverteilung – auch das Engagement für Chancengleichheit, Bildung für alle, Gesundheit für alle et cetera gehört). Die Einführung einer nationalen Erbschafts- und Schenkungssteuer wäre vor diesem Hintergrund eine gute Sache – vor über 20 Jahren habe ich im Nationalrat eine Motion für eine solche Steuer eingereicht. Manche Themen begleiten einen durch die Jahrzehnte…
Jacqueline Fehr
Burger schrieb
Aber sonst geht es Ihnen gut? Der Chrampfer und Sparer ist der Dumme, oder was????
Mit ihrer Politik trifft es leider vorallem die Mittelschicht!
Sie sollten sich mehr an die vernünftige Politik der SVP orientieren.
Ich als Urschweizerin habe langsam die Nase voll von der jetzigen Zeit, gerne würde ich das Rad zurück drehen und im 1970 leben, wo es noch angenehm war in der Schweiz.
Freundliche Grüsse
Gaby Burger
Eric Rohner schrieb
Ich freue mich über diesen Querdenker Blog und reihe mich gern ein. Meine Wahrnehmung der Entwicklung ist zwiespältig.
Da ist eine Innensicht der Schweiz auf sich selbst. Und ja, da ist vieles gut gelaufen. Und da ist die Aussensicht auf die Schweiz und vor allem auf Europa.
Die Pandemie hat schonungslos die Grenzen der Solidarität und des Anstands (Camus/Pest) aufgezeigt. Wir sind zufrieden, wenn es uns nicht zu arg beutelt.
Dass neben der Pandemie die Berichterstattung über die gefrässigen Heuschrecken im Sudan, in Äthiopien und mehr plötzlich keinen Platz mehr fanden in unserer Wahr-Nehmung und dass die Zahlen der Infizierten in Europa nie als Gesamtzahl auftauchte, sondern den einzelnen Ländern zuortbar, hat mich befremdet. Auch das Verhalten Europas den dramatischen Szenen an der türkisch/griechischen Grenze hat wie von Geisterhand plötzlich niemanden mehr interessiert. Hauptsache wir infizieren uns nicht im Übermass.
Gut ist, dass ich spüre, dass eine simple Rückkehr zum Stand vor der Pandemie doch von vielen abgelehnt wird.
Mal schauen, wie sich das auf die Abstimmung über die Konzernverantwortung auswirkt!
Kaspar Zimmermann schrieb
Seit 23 Jahren fordere ich eine Öffnung der Schulmedizin, seit Anfang 2000, dass die Eigenverantwortung in der Bevölkerung zugelassen und schliesslich in den Schulen eingeführt wird. Dies wurde explizit vom Kanton Zürich und Schwyz abgelehnt (2009). Warum? Weil Corona bereits längst in der Pipeline der Politik floss! – Mit Eigenverantwortung und Erkennungsmedizin (Bedeutung der Körpersignale verstehen), hätte die Corona-Krise bei uns gar nicht stattfinden können. Aber ein Shut oder Lock Down war so oder so ‘unangebracht’, ‘unverhältnismässig’ und ‘verfassungswidrig’! – Allerdings waren die Massnahmen des BR (Home Schooling, Home Office, zu Hause bleiben, keine Zerstreuung) symbolisch ein Hinweis, dass man bei sich, sprich an sich, arbeiten sollte, was nichts anderes heisst, als dass man eigenverantwortlich an sich arbeiten sollte. Dies mindestens kann man als positives Zeichen sehen. Kaspar Zimmermann