Das Nein zum Stimm- und Wahlrechtsalter 16 bestätigt das Urprinzip der Schweizer Politik: Reformen brauchen Zeit. Die Geschichte zeigt allerdings noch etwas Zweites: Irgendwann ist die Zeit reif. Das stimmt mich zuversichtlich.
Es gibt – zugegeben: etwas vereinfacht – zwei Arten von politischen Niederlagen. Es gibt Niederlagen, da muss man am Abstimmungssonntag einräumen: Ich hätte es zwar gern anders gehabt, aber die Stimmenden haben gesprochen. Das gilt es zu respektieren. Vorhang gefallen.
Und dann gibt es Variante zwei. Natürlich gilt es auch hier die Niederlage zu respektieren. Aber sozusagen unter Vorbehalt, nämlich verbunden mit dem Anspruch, weiter kämpfen zu wollen.
Das Nein zum Stimm- und Wahlrechtsalter gehört für mich zur Variante zwei. Ich bin restlos überzeugt, dass im Bemühen, die Teilhabe und die Partizipation zu verbessern und zu erweitern, der Schlüssel für die Zukunft liegt. Es ist der Weg zu einer toleranten, verantwortungsbewussten und gestaltungswilligen Gesellschaft.
Es mag manche stören, wenn man nach einer politischen Niederlage nicht klein beigibt. Doch wo wären wir ohne all die Frauen und Männer, die hartnäckig und trotz Rückschlägen für Reformen gekämpft haben? Wir wären weit entfernt von unserem heutigen Sozialstaat und von vielen weiteren Errungenschaften.
Die namenlosen Vorkämpferinnen
Als im September 2004 die Mutterschaftsversicherung eine klare Ja-Mehrheit erzielte, gab es viel Lob und viele Komplimente für den damaligen Präsidenten des Schweizerischen Gewerbeverband, Pierre Triponez, und für mich. Wir galten als das Gespann, das der Mutterschaftsversicherung zum Durchbruch verholfen hatte.
Man tut in solchen Momenten der Euphorie gut daran, auch ein bisschen Demut zuzulassen. Was im Herbst 2004 als «unser» Erfolg gefeiert wurde, war nur möglich, weil zuvor ganz viele Frauen und Männer unermüdlich, aber ohne – direktes – Ergebnis für das Anliegen gekämpft hatten.
Im Fall der Mutterschaftsversicherung brauchte es fast zwanzig Anläufe auf Bundesebene, die ersten noch im späten 19. Jahrhundert, bis es endlich klappte. Viele dieser Frauen und Männer kennt heute niemand mehr. Aber ohne sie hätten Pierre Triponez und ich keinen Triumph feiern können. Jede und jeder baute am Fundament mit, auf dem wir schliesslich die erfolgreiche Vorlage bauen konnten.
Viele Errungenschaften, die für uns heute selbstverständlich sind, wurden zum Zeitpunkt, als sie erstmals als Forderung in den politischen Raum gestellt wurden, heftig bekämpft. Ja, die Initianten wurden als naiv, unvernünftig und am Volk vorbei politisierend verhöhnt. Gerade deshalb fühle ich mich dem Erbe dieser Vorkämpferinnen verpflichtet. Denn nur, weil sie sich durch die Kritik nicht vom Weg abbringen liessen, gab es in unserem Land sozial- und demokratiepolitischen Fortschritt.
Nicht von heute auf morgen
In der Schweiz brauchen Reformen Zeit. Die Volksrechte verunmöglichen es den politischen Behörden, den Fortschritt zu verordnen. Ohne eine Mehrheit in der Stimmbevölkerung geht nichts. Und eine Mehrheit muss errungen und erstritten und über Jahrzehnte aufgebaut werden. Das geschieht nicht von heute auf morgen.
Das ist manchmal ein Ärger oder sogar eine Peinlichkeit. Etwa beim Frauenstimm- und Wahlrecht. 1954 hatten die Frauen in praktisch allen Ländern Europas das Stimm- und Wahlrecht, weltweit kamen in jenem Jahr Belize, Ghana und Kolumbien dazu. Im Kanton Zürich erlitt eine Vorlage für ein kantonales Frauenstimmrecht mit 71 Prozent Nein-Stimmen Schiffbruch. 1959 stimmte die ganze Schweiz ab: 67 Prozent Nein.
Es brauchte nochmals eine halbe Generation, bis die Zeit reif war: 1970 sagten die Zürcher Männer mit 67 Prozent Ja. 1971 gab es landesweit 66 Prozent Ja-Stimmen.
Langsamkeit hat auch ihr Gutes
All das ging mir durch den Kopf, als am Sonntag die Resultate zum Stimm- und Wahlrechtsalter 16 eintrafen. Natürlich war ich enttäuscht – so wie alle Frauen und Männer enttäuscht waren, die in den zurückliegenden Jahrzehnten in ihrem Engagement für einen besseren Mutterschutz, für das Frauenstimmrecht oder für eine andere Reform Niederlagen verkraften mussten.
Inzwischen bin ich – mit etwas Distanz zum Sonntag – wieder zuversichtlicher.
Erstens zeigt die Geschichte: Wenn heute die Zeit noch nicht reif ist, dann ist sie es vielleicht morgen oder spätestens übermorgen. So, wie bei der Mutterschaftsversicherung oder beim Frauenstimmrecht oder bei anderen Reformvorhaben irgendwann der Moment gekommen ist, so wird er auch beim Stimm- und Wahlrechtsalter 16 kommen. Davon bin ich überzeugt.
Auch für die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters von 20 auf 18 Jahre brauchte es auf nationaler Ebene zwei Anläufe. Und auch damals bahnten einige mutige Kantone den Weg und senkten die Alterslimite, bevor es dafür 1991 eine Ja-Mehrheit auf Bundesebene gab.
Zweitens sollten wir nicht vergessen: Dass die politischen Prozesse in der Schweiz umständlich sind und Veränderungen daher nur langsam und manchmal gar nicht vorankommen – daran ist auch viel Gutes. Das System sorgt dafür, dass alle wichtigen Akteure in den Entscheidungsprozess einbezogen und angehört werden. Was im Ergebnis dazu führt, dass manch fataler neoliberaler Service-Public-Abbauplan und manch schamloses Steuersenkungsprojekt abgestürzt sind und auch in Zukunft abstürzen werden.
Die Beteiligung verbessern
Und drittens: Wir werden zwar in nächster Zeit kein tieferes Stimm- und Wahlrechtsalter haben. Aber wir haben andere Möglichkeiten, um die Beteiligung von jungen Menschen am politischen Leben zu verbessern.
Unter den Projekten, mit denen meine Direktion die Teilhabe stärken will, hat es mehrere, die auf junge Menschen fokussieren. Dazu gehören die Massnahmen, mit denen wir die politische Bildung von Lernenden an Berufsfachschulen fördern wollen. So unterstützt der Kanton die Jugendorganisationen «Discuss it» und «easyvote» sowie das Zürcher Jugendparlament in deren gemeinsamem Bemühen, mit Schul-internen Podiumsdiskussionen die Politik und speziell die direkte Demokratie erlebbar zu machen.
Ausserdem wollen wir das Zürcher Jugendparlament stärker unterstützen.
Und schliesslich würde ich es begrüssen, wenn wir das Instrument des Jugendvorstosses, das es bereits in einigen Zürcher Gemeinden – zum Beispiel in der Stadt Bülach – gibt, populärer machen würden. Eine Studie, die vor allem auf die Gemeinden des Kantons Bern fokussiert, zeigt auf, dass sich dieses politische Recht gut dafür eignet, Jugendliche für die politische Teilnahme zu motivieren.
Ich freue mich darauf, mich weiterhin in den verschiedensten Bereichen dafür einzusetzen, dass wir die Teilhabe stärken und fördern. Das ist eine Zukunftsinvestition von unschätzbarem Wert. Dazu gehört, dass wir uns immer wieder fragen, wer zum Stimmvolk gehört. Diese zentrale Frage muss in jeder Demokratie stets von Neuem verhandelt werden.
Bild: Irgendwann ist die Zeit reif für ein tieferes Stimm- und Wahlrechtsalter. (Quelle: Samuel Schumacher)
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