
Die Jugend auf der Strasse und «Black Lives Matter» auf Tiktok: Es verändert sich gerade etwas in der Politik. Was heisst das für uns Ältere? Dass es höchste Zeit ist für das Stimmrechtsalter 16.
Ein Mitarbeiter hat mir kürzlich davon erzählt, wie die Polizeibrutalität gegen Nicht-Weisse in den USA seine 11-jährige Tochter aufgewühlt habe. Das Gespräch kommt mir wieder in den Sinn, wie ich mir die Bilder der Schweizer Anti-Rassismus-Demos ansehe: Tausende von jungen Menschen, die gegen Gewalt und Diskriminierung protestieren.
Nach der Klimajugend nun die «Black-Lives-Matter»-Jugend. Und dies, nachdem jahrelang die Jammerer das Wort geführt hatten : Wie unpolitisch «die heutige Jugend» doch sei! Wie angepasst und brav sie sich durchs Leben konsumiere! Heute stellen wir fest: Das Jammern war wohl unfair. Wir tun gut daran, die alten Klischees zur sogenannt heutigen Jugend rasch und gründlich zu korrigieren.
Es verändert sich gerade etwas in unserer Gesellschaft, und das gefällt mir sehr. Bewegungen, die ganz oder teilweise von jungen Menschen geprägt sind – neben Klima- und Anti-Rassismus-Bewegung gehört auch der Frauenstreik dazu – haben eine mächtige politische Dynamik in Gang gebracht. Auch die Wahlen vom letzten Jahr standen unter dem Einfluss dieser Dynamik. Dabei kommen die neuen Bewegungen meist ohne WortführerInnen, Alpha-Frauen und -Männer aus. Die Kraft der Bewegungen liegt im Kollektiv. Es gibt weder das Frauenstreik- noch das «Black Lives Matter»-Gesicht.
Digitale Selbstverständlichkeit
Was es hingegen gibt: eine neue Art der Kommunikation. Die Jugendlichen von heute sind die erste Generation, die mit sozialen Medien aufgewachsen ist. Sie bewegen sich mit einer virtuosen Selbstverständlichkeit in diesen Medien – und lassen so ganz neue Kraftfelder entstehen: Im Nu verbreiten sich Botschaften unter Abertausenden von jungen Frauen und Männern. Das können Vergnügungsbotschaften sein. Das sind aber immer wieder und – wie mir scheint – immer öfter auch politische Botschaften. Ohne soziale Medien hätte die «Black Lives Matter»-Bewegung niemals so rasch so viel Wucht entwickeln können.
Aus Neugier und im Wissen, dass ich altersmässig nicht unbedingt zur Zielgruppe gehöre, habe ich mir kürzlich einen Besuch auf der Videoplattform Tiktok erlaubt. Hier, wo üblicherweise Jugendliche ihre Tanz- und Spassvideos posten, tut sich Bemerkenswertes. Offenbar waren es TiktokerInnen, die Donald Trumps hochgepushten Wahlkampfauftritt in Tulsa in ein Fiasko verwandelt haben (hier mehr dazu).
Und TiktokerInnen sind es auch, die dazu beitragen, dass die «Black Lives Matter»-Bewegung um die Welt geht. Mit dem Rassismus-Protest – so habe ich in der NZZ gelesen – sei erstmals ein politisches Thema auf der Plattform aufgetaucht. Wobei man korrekterweise statt von Auftauchen von Explodieren sprechen sollte: Der Hashtag #BlackLivesMatter wurde auf Tiktok schon mehrere Milliarden mal aufgerufen. Influencerinnen mit immenser Anhängerschaft äussern sich plötzlich politisch.
Ich habe mir den Kanal von Charli d’Amelio angeschaut, 16 Jahre alt und mit 65 Millionen Followern eine der erfolgreichsten Tiktok-Influencerinnen. Ihr Profilbild besteht aktuell aus dem «Black Lives Matter»-Schriftzug. Und unter ihren Videos ist das mit Abstand meistgeklickte (über 120 Millionen Mal) ein bewegendes Plädoyer gegen Rassismus. Reingucken lohnt sich – auch für Über-16-Jährige (hier gehts zum Video).
Mehr als eine Mode
Natürlich bin ich mir bewusst, dass Tiktok nicht die Welt retten wird. Natürlich weiss ich, dass Hypes rasch entstehen und ebenso rasch wieder verschwinden können. Und natürlich ist mir klar, dass Social-Media-Plattformen auch zu sehr unschönen Zwecken eingesetzt werden können – da fehlt es leider nicht an Beispielen. Trotzdem finde ich, dass die Phänomene, die wir gerade erleben, unser Interesse und unsere Aufmerksamkeit verdienen. Da geht es um mehr als um flüchtige Moden. Mit den neuen Bewegungen – ob fürs Klima, gegen Rassismus oder für Gleichstellung – erleben wir eine Jugend, die emotional sensibel, inhaltlich beschlagen und digital versiert ist. Zudem ist sie kreativ – und diszipliniert: Schon bevor der Bundesrat die Demo-Maskenpflicht verordnet hatte, trugen die Teilnehmenden am Zürcher «Black Lives Matter»-Protestzug konsequent Masken. Die Jugendlichen wissen um ihre Verantwortung – und übernehmen diese.
Wir erleben eine Jugend, die politisch reifer ist als ihre Vorgänger-Generationen. Sie ist ernsthaft und entschlossen. Ich glaube und hoffe, dass sie den langen Atem hat, um Spuren zu hinterlassen.
Ein langer Atem allein reicht freilich nicht: Damit sich wirklich etwas verändert, muss die Kraft der Bewegung in traditionelle, institutionelle Politik übersetzt werden. Es braucht politische Vorstösse, Initiativen, Referenden – und es braucht Menschen, die mit ihren Stimm- und Wahlzetteln dieses Land und seine Zukunft mitgestalten wollen. Unsere Jugendlichen zeigen eindrücklich, dass sie sich beteiligen wollen, wenn es um diese Gestaltung geht – es ist schliesslich ihre Zukunft!
Damit sind wir Älteren am Zug: Für uns, die wir in diesem Land mitentscheiden dürfen, muss der jugendliche Wille zur Teilnahme und Teilhabe Auftrag und Verpflichtung sein: Wir sollten lieber heute als morgen dafür sorgen, dass das Stimmrechtsalter auf 16 Jahre gesenkt wird.
Bild: Niemand hat mehr Tiktok-Follower als Charli d’Amelio (Quelle: Screenshot Tiktok.com)
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