Antisemitische Angriffe haben im vergangenen Jahr markant zugenommen – ganz besonders im digitalen Raum. Corona hat diese Entwicklung offenbar verstärkt: In Schweizer Telegram-Chats verbreiten Nutzer antisemitische Verschwörungstheorien und diffamieren alles Jüdische. Das zeigt der neue Antisemitismusbericht, den die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus sowie der Schweizerische Israelitische Gemeindebund gemeinsam herausgeben. Die Entwicklung muss uns Warnung und Aufforderung sein. Antisemitismus hat in unserer Gesellschaft keinen Platz. Wo er sich zeigt, muss er sanktioniert werden.
Nach dem Willen des Bundesrats sollen Nazisymbole nicht verboten werden. Wer also mit Hakenkreuz oder Judenstern an Demonstrationen auftaucht oder wer jüdische Menschen mit dem Hitlergruss einschüchtert, soll in der Schweiz ungestraft bleiben. Er sei davon überzeugt, schreibt der Bundesrat als Antwort auf eine Motion, «dass gegen die Verwendung von nationalsozialistischen Symbolen ohne Propagandazwecke Prävention besser geeignet ist als strafrechtliche Repression».
Ich verstehe diese Haltung des Bundesrates nicht.
Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass es viele Manifestationen von Herabminderung und Diskriminierung gibt. Und ganz entschieden bin ich der Ansicht, dass wir keine einzige dieser Manifestationen tolerieren dürfen. Es sollte Teil des gesellschaftlichen Konsens’ und Ausdruck unserer Zivilisation sein, dass wir uns gegen jede Form von Entwürdigung stellen.
Gleichzeitig und ebenso entschieden bin ich aber der Meinung, dass es im Umgang mit nationalsozialistischen Symbolen noch zusätzliche, nämlich strafrechtliche Massnahmen braucht: Die Zurschaustellung solcher Symbole gehört untersagt.
Dafür gibt es gute Gründe. Erstens ist der Holocaust ein Verbrechen von unvergleichlicher Dimension. Deshalb sollen auch für den Umgang mit dem historischen Erbe, mit der Erinnerung an diese singuläre Katastrophe besondere Regeln gelten.
Zweitens tragen wir im christlichen Europa eine besondere Verantwortung. Hier wütete der Antisemitismus über die Jahrhunderte hinweg am heftigsten, hier hatte er die verheerendsten Folgen, hier haben Christen den Holocaust geplant und umgesetzt.
Drittens bringt, wer mit Hakenkreuzen und Hitlergruss auftritt, nicht «bloss» eine Gesinnung zum Ausdruck. In der öffentlichen Präsentation solcher Symbole liegt die Aufforderung zum Handeln – zur aktiven Bekämpfung des Jüdischen. Auch wer – wie ich – die liberale Position vertritt, wonach extremistisches Gedankengut erst strafbar sein soll, wenn es sich in Handlung äussert, muss deshalb im Fall von NS-Symbolen bereits bei der Zurschaustellung für Sanktionen plädieren.
Entschlossene Antwort
Der Bundesrat liegt falsch, wenn er mit Blick auf die Nazi-Symbolik sagt, man müsse hinnehmen, «dass auch stossende Ansichten vertreten werden, selbst wenn sie für die Mehrheit unhaltbar sind». Nein! Ich finde, wir sollten, ja dürfen das in diesem Fall nicht hinnehmen.
Die steigende Zahl der antisemitischen Übergriffe fordert uns alle heraus und besonders die muslimische Bevölkerung. In ihren Kreisen gibt es zunehmend Stimmen, die ihre Kritik an der westlichen Politik in ihren Herkunftsregionen durch eine antisemitische Haltung zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig steht die muslimische Bevölkerung zu Unrecht kollektiv unter Antisemitismusverdacht.
Im Kanton Zürich antworten wir auf diese Entwicklung entschlossen und in einer breiten Allianz. Noam Hertig, Rabbiner der israelischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ), und Muris Begovic, Geschäftsführer und Imam der Vereinigung muslimischer Organisationen (VIOZ), sind nicht nur langjährige persönliche Freunde. Sie engagieren sich auch gemeinsam für ein friedliches Zusammenleben über alle Religionsgrenzen und weltpolitischen Spannungen hinweg. 2018 wurden sie dafür mit dem Dialogpreis des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz (PLJS) ausgezeichnet.
Nichts ist mächtiger als der respektvolle Dialog
Dem Beispiel von Noam Hertig und Muris Begovic müssen wir folgen. Nichts ist mächtiger als der respektvolle Dialog. Mehr Zusammenarbeit, weniger Ausgrenzung, mehr miteinander reden statt übereinander urteilen: So stärken wir uns im gemeinsamen Engagement für ein friedliches, freiheitliches und solidarisches Zusammenleben. Dazu gehört auch, dass wir alle uns darum bemühen sollten, vor der eigenen Haustüre zu wischen statt mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Der Antisemitismus ist eine einheimische Krake. Er hat sich in unserer Kultur zum verheerenden Gift entwickelt. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist damit in erster Linie unser europäischer und unser schweizerischer Kampf. Die massive Zunahme der Übergriffe im vergangenen Jahr zeigt, dass wir einen Zacken zulegen müssen. Und sie macht klar: Wer Nazi-Symbole weiterhin erlaubt, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Bild: Vielerorts in Europa – auch in der Schweiz – erinnern Stolpersteine an die Opfer des Holocaust. (Quelle: Pixabay)
Frederic Weil schrieb
Sehr gut geschrieben liebe Jacqueline. Bin ganz deiner Meinung und hoffe, dass der BR sich dies nochmals überlegt.
Gruss aus Frankreich.