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jacqueline-fehr.blog - Blog von Jacqueline Fehr

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Mein Kompass ist die Emanzipation

6. Mai 2021 1 Kommentar

Es gibt einen Begriff, der mich begleitet, seit ich Politik mache. Das heisst, genau genommen begleitet er mich schon länger. Man könnte sagen: Er packte mich in meiner Jugend und führte mich in die Politik. Es ist der Begriff der Emanzipation. Und so ist für mich in diesen Tagen, wo ich mit grosser Freude die Arbeit als Regierungspräsidentin des Kantons Zürich aufgenommen habe, der Moment gekommen für eine kleine Würdigung dieses Begriffs, der für mich und meinen politischen Weg so wichtig ist.

Als ich mich als junge Frau für Politik zu interessieren begann, war die Stellung der Frau in der Gesellschaft, im Recht, in der Politik und in der Wirtschaft wesentlich schwächer als heute. Die Erfahrung, dass ich aufgrund meines Geschlechts zur diskriminierten Hälfte der Bevölkerung gehörte, war so etwas wie mein politisches Ur-Erlebnis. Es machte mich zu einem Teil der Frauenemanzipationsbewegung.

Auch im Jahr 2021 sind wir punkto Gleichstellung noch längst nicht im Ziel, aber wir sind entschieden weiter als damals. Dieser Fortschritt ist das Verdienst unserer Bewegung. Dass inzwischen auch der Schimpfname, mit dem wir jungen, aufmüpfigen Frauen früher regelmässig tituliert worden sind, praktisch verschwunden ist, lässt sich als sinnbildliche Begleiterscheinung dieses Fortschritts lesen. Kaum jemand lästert heute noch über die «Emanzen».

Das ist erfreulich, keine Frage. Aber was lässt sich daraus schliessen? Ist die Gesellschaft tatsächlich emanzipierter geworden? Oder sind einfach andere Schimpfwörter in Mode?

Freiheit und Verantwortung

Emanzipation ist ein anderes Wort für Selbstermächtigung. Der Begriff steht letztlich für «Ich will und ich kann entscheiden». Es ist die Befreiung aus Vorschriften und Konventionen. Es ist die Befreiung von Rollen und Zuschreibungen. Es ist die Befreiung mit dem Ziel, über das eigene Leben selber entscheiden zu können. Sich selber zu sein.

Mit anderen Worten: Emanzipation heisst Freiheit. Und damit heisst Emanzipation auch Verantwortung. Denn wer Entscheide trifft, muss für diese grade stehen und darüber Rechenschaft ablegen. Wer sein Leben in Freiheit gestaltet, verantwortet das eigene Handeln.

Emanzipation hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Dimension. Es gibt keine persönliche Emanzipation in einer nichtemanzipierten Gesellschaft. Die afghanische Frau – gut ausgebildet und selbstbewusst – kann in einem totalitär-patriarchalen System kein freies Leben führen, egal wie emanzipiert ihr eigenes Denken ist.

Doch wir müssen gar nicht bis in den Hindukusch gehen: Wo immer emanzipierte Menschen auf unemanzipierte Strukturen stossen – sei es in Medienhäusern, Universitäten, Teppichetagen, Bühnenhäusern oder Fussballclubs – werden sie in ihrer Entfaltung eingeschränkt.

Deshalb mache ich Politik. Weil es darum geht, die Strukturen in einem gesellschaftlichen Prozess zu verändern. So, dass alle sein können, wer sie sind – in Achtung vor dem Bedürfnis der Mitmenschen, die ebenfalls sein wollen, wer sie sind.

Die Kraft der Veränderung

Damit ist klar: Emanzipation braucht nicht nur Freiheit und Verantwortung. Sie braucht auch Solidarität. Wer ohne Rücksicht auf das Wohl anderer nur auf den eigenen Vorteil aus ist, lebt bloss sein Ego, seinen Geiz und seine Habgier aus.

Emanzipation entsteht im Dreieck von Freiheit, Verantwortung und Solidarität. Sie ist die Kraft, die Veränderungen möglich macht. Denn Emanzipation ist kein Zustand, sondern eine nie ruhende Bewegung mit dem Ziel, das Heute und Morgen zu gestalten und zu verbessern.

Der Aufbruch und die (Selbst-)Befreiung der Frauen ist sozusagen der Klassiker der Emanzipationsgeschichte. Auch ich lernte den Begriff in diesem Zusammenhang kennen. Doch danach begleitete er mich durch die ganze Breite der Gesellschaft: Der Kampf für die Rolle und die Rechte der Jungen, der Migrantinnen und Migranten, der Anders-Sexuellen – immer handelte es sich dabei um Emanzipationskämpfe. Die «Black Lives Matter»-Bewegung war einer von vielen exemplarischen Emanzipationsmomenten.

Achtsamer, toleranter, menschlicher

Emanzipationsbewegungen zu unterstützen, zu begleiten und ermöglichen zu helfen, ist so etwas wie mein politischer Kompass. Wie gut und wie konsequent ich ihm gefolgt bin, sollen dereinst andere beurteilen. Was ich nach über drei Jahrzehnten Politik aber glaube feststellen zu können: Die Emanzipationsbewegungen der letzten Jahre und Jahrzehnte haben in der Schweiz Spuren hinterlassen, die nicht nur die sprachlich-symbolische Ebene betreffen. Sie haben uns tatsächlich achtsamer, ja menschlicher gemacht. Diskriminierungen (von Jungen, Frauen, Linken, Ausländerinnen), die vor wenigen Jahrzehnten noch breit akzeptiert waren, sind heute ein ebenso breit akzeptiertes No-Go.

Bevor ich mich dem Vorwurf aussetze, die Gegenwart allzu schön zu malen: Es ist längst nicht alles gut. Diskriminierung, Entwürdigung, Rassismus und Sexismus gibt es nach wie vor. Wir sind längst nicht immer so emanzipiert, wie wir uns das gerne einreden.

Und doch bin ich der Meinung, unsere heutige Gesellschaft sei, verglichen mit der Generation unserer Eltern, weniger gespalten und im Umgang toleranter. Ich erinnere – zugegeben, etwas plakativ – an die Filme «Moskau einfach» oder «Die göttliche Ordnung». Beide zeigten eine enge, rigide und auch brutale gesellschaftliche Realität, eine Realität weit weg vom Anspruch, allen Menschen ein selbstbestimmtes, emanzipiertes Leben zu ermöglichen.

Selbst wenn auch heute die gesellschaftlichen Herausforderungen gross sind: Diese Realität wünsche ich mir nicht zurück. Ich halte es für ein grosses Glück und eine grosse Errungenschaft, dass wir uns in den letzten Jahren gesellschaftlich geöffnet und entkrustet haben.

Dieser Prozess war und ist umso wichtiger, weil es sich dabei um keine isolierte Entwicklung handelt. Es ist vielmehr eine Entwicklung, die mit einem anderen Wesensmerkmal unseres Landes und unseres Zusammenlebens korrespondiert: dem Vertrauen.

Land des Vertrauens

Die Schweiz ist das Land des Vertrauens. Dieses prägt das Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern. Beispielhaft manifestiert sich das gegenseitige Vertrauen in der direkten Demokratie mit ihren zahlreichen Sachabstimmungen. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen dem Staat, dass dieser seine Macht nicht missbraucht und den Volkswillen ernst nimmt. Umgekehrt vertraut der Staat den Bürgerinnen und Bürgern, dass sie nicht nur an sich selber denken, sondern sich für die Gesellschaft mitverantwortlich fühlen. Und tatsächlich: Egal ob es um eine fünfte Ferienwoche, Steuererhöhungen oder eine Stärkung der Mietrechte geht – das Ausland nimmt mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis, dass die Schweizerinnen und Schweizer immer wieder gegen ihre unmittelbaren Eigeninteressen stimmen.

Die direkte Demokratie ist eben nicht nur eine Methode zur Entscheidfindung. Sie ist vielmehr System gewordene Erfahrung einer sich selber regulierenden Gemeinschaft. Mit allen Schwächen, Fehlleistungen und Gemeinheiten, die selbstregulierende Systeme hervorbringen. Aber eben auch mit dem Vertrauen und dem Wissen, dass eine Gemeinschaft sich nur selber regulieren kann, wenn allen bewusst ist, dass wir gemeinsam mehr sind als die Summe unserer Individuen.

Und so stimmen Menschen für eine Mutterschaftsversicherung, die selber nie (mehr) davon profitieren können. Oder junge Menschen für den Ausbau einer Alterssiedlung, in der sie selber nie wohnen werden.

Eine Wechselwirkung

Damit komme ich zurück auf die Beziehung zwischen Vertrauen und Emanzipation: Die beiden Begriffe stehen in einer Wechselwirkung. Ohne Emanzipation hat es das Vertrauen schwer. Ein vertrauensvolles Verhältnis zum Staat entsteht, wenn die Bürgerinnen und Bürger die Obrigkeitsfurcht hinter sich lassen und zu einer selbstbewussten, emanzipierten Haltung finden. Je selbstbewusster und emanzipierter eine Gesellschaft, umso weniger prägen Furcht und Misstrauen das Klima.

Umgekehrt gelingt die Selbstermächtigung, verstanden als Zusammenspiel von Freiheit, Verantwortung und Solidarität, leichter in einem Klima des Vertrauens und der Toleranz. Wer Vertrauen anbietet, erntet Emanzipation.

Vertrauen und Emanzipation gehören zusammen und entwickeln sich gemeinsam. Natürlich: Die direkte Demokratie hat ihre Ursprünge im vorletzten Jahrhundert, und so lange es sie gibt, gibt es auch eine Art von Vertrauen zwischen Staat und Bürgern (die Bürgerinnen kamen bekanntlich erst spät hinzu) – denn ganz ohne Vertrauen funktioniert die direkte Demokratie nicht.

Doch lange war das Vertrauen des Staats in die Bürgerinnen und Bürger höchstens halbbatzig, mindestens so präsent waren Einschüchterung und Misstrauen: die Fichier-Obsession der Politischen Polizei im Kalten Krieg ist ein Beispiel, die Rhetorik des bürgerlichen Establishment im Kampf gegen die «Schweiz ohne Armee»-Initiative, welche Zustimmung mehr oder weniger explizit mit Landesverrat gleichsetzte, ein anderes. Es brauchte die Emanzipationsprozesse der jüngeren Vergangenheit, damit auch punkto Vertrauen Fortschritte möglich wurden.

Mut und Hoffnung für die Zukunft

Ich komme zum Schluss – und damit in die unmittelbare Gegenwart: Wie alles in der Corona-Pandemie, zeigt sie auch das Verhältnis von Vertrauen und Emanzipation unter einem Brennglas. Es gab in der Schweiz keine Ausgangssperre und keine Polizei-Armada, die zwecks Durchsetzung der Corona-Massnahmen aufmarschierte. In der Schweiz trauten Staat und Behörden der Bevölkerung mehr zu als anderswo – nämlich ein emanzipierter, also gleichzeitig selbstverantwortlicher und solidarischer Umgang mit der Situation.

Ist die bundesrätliche Rechnung aufgegangen? Der Moment des Bilanzziehens wird kommen. Immerhin so viel glaube ich aber bereits sagen zu können: Ich bin zuversichtlich, dass wir zwar müde, aber gesellschaftlich gesund aus dieser Krise herauskommen werden. Bestätigt durch die Erfahrung, dass sich die ganz grosse Mehrheit aus Einsicht und Solidarität klaglos – ok, mehr oder weniger klaglos 😉 – über all die Monate an die Einschränkungen gehalten hat.

Das gibt Mut und Hoffnung für die Zukunft. Wir leben in einer Multioptionengesellschaft, deren Hauptmerkmal die Verschiedenheit ist. Ordnungsprinzipien wie die Kirche oder die Tradition haben sich verflüchtigt. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren die individuelle Freiheit und damit auch die Verantwortung so gross. Wir können – aber wir müssen auch – unser Lebensmodell wählen und gestalten.

Wir leben also ein grosses Experiment. Das Experiment der freien und heterogenen Gesellschaft, die sich trotz aller Verschiedenheit vertraut, solidarisch ist und gemeinsam Verantwortung übernimmt. Möglich macht das die Selbstermächtigung – also der Wille und die Freiheit, mein Leben zu gestalten und zu sein, wer ich bin. Möglich macht das die Emanzipation. Sie bleibt mein Kompass.

Foto: Die «Black Lives Matter»-Bewegung – ein exemplarischer Emanzipationsmoment. (Bild Pixabay)

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Kategorie: Blog Tags: Push

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  1. Gelebtes Miteinander | Blog von Jacqueline Fehr sagt:
    3. Juni 2021 um 08:18 Uhr

    […] der Selbstermächtigung – zwei weitere Begriffe, die mein politisches Denken prägen (mehr dazu in diesem Blogbeitrag). Denn erst wer sich ernst genommen und einbezogen fühlt, ist auch stark genug, um Verantwortung […]

    Antworten

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