
Heute, am 15. November vor genau 50 Jahren haben die Zürcher Männer entschieden, dass künftig auch die Frauen abstimmen und wählen «dürfen». Ich weiss nicht recht, ob dieser runde Geburtstag für mich ein Tag der Freude oder der Ernüchterung ist. Denn wirklich feiern kann man diesen viel zu späten Schritt in Sachen Gleichstellung nicht.
Richtig bewusst wird mir die Absurdität des gleichstellungspolitischen Schneckentempos, wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Mutter, als sie mich 1963 zur Welt brachte, nicht nur nicht stimmen durfte, sondern auch sonst kaum Rechte hatte. Gelebt haben meine Eltern zwar anders. Aber von Gesetzes wegen hätte meine Mutter weder selber entscheiden können, ob und wo sie eine Arbeitsstelle annimmt, weder wo die Familie wohnt.
1981 erst wurde die Gleichstellung in der Bundesverfassung verankert. Seither steht dort in Art 8, Abs. 3 als Auftrag: «Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.»
Doch erst das neue Familienrecht 1988 hat den Frauen erste fundamentalen Wirtschaftsrechte gewährt. Das «Oberhaupt» der Familie wurde abgeschafft, und die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes hatte rechtlich ein Ende. Dass gegen dieses Gesetz von Christoph Blocher das Referendum ergriffen wurde und es letztlich dieser Abstimmungskampf war, der am Anfang seiner politischen Karriere stand, lässt tief in die Seele der damaligen Schweiz blicken.
Noch irritierender ist das Abstimmungsresultat: 52 Prozent der Männer lehnten das neue Eherecht ab. Und auch nur gerade 61 Prozent der Frauen sagten Ja.
Schneckentempo – und Verletzungen im Alltag
Dies erklärt möglicherweise das Schneckentempo, mit der die Gleichstellung in der Schweiz vorankriecht. Und es erklärt vielleicht auch, weshalb das Gespräch, das ich vor wenigen Tagen mit einer jungen Frau führte, immer noch stattfinden muss.
Nennen wir sie Klara. Sie erzählte mir an einem schönen Herbstnachmittag beim Kaffee von ihren Erfahrungen als junge Frau im öffentlichen Raum. Abends im Zug nach Hause, als sich über Wochen immer mal wieder der gleiche Mann neben sie setzte und sie zu berühren versuchte. Wie sie begann, sich schon zu ekeln, wenn sie nur auf den Zug zuging. Wie sie gar begann sich zu fragen, ob sie überhaupt noch ausgehen soll. Oder von den mehrfachen Meldungen bei der Polizei über den Mann, der verschiedene Frauen in der Stadt anmachte – und die Polizei nur schulterzuckend meinte, er sei wahrscheinlich krank, und sie sollten als Frauen etwas besser darauf achten, was für Signale sie aussendeten. Oder vom Einkauf in der Migros, als ihr ein Typ einfach so an den Hintern griff. Oder vom anderen Typ, der es gleich lieber zwischen die Beine machte. Oder von den pornografischen Bildern morgens beim Kaffee, wenn sie ihr Mail-Konto durchschaut. Oder, oder, oder.
Haben Sie sich schon mal gefragt, ob die Gleichstellung denn nicht längst schon erreicht sei? Leider nein. Denn das Frauenstimmrecht und alle anderen rechtlichen Fortschritte sind wichtig. Und der Kampf für bessere Betreuungsangebote, Karrieremöglichkeiten und Lohngleichheit ebenso. Erreicht ist die Gleichstellung aber erst, wenn Frauen in ihrem Alltag, wo immer sie sind und was immer sie machen, keinen Gedanken an irgendeine Belästigung und Verletzung ihrer Integrität verlieren müssen.
Und deshalb weise ich an diesem Tag, am Tag, an dem wir 50 Jahre Frauenstimmrecht im Kanton Zürich würdigen, auf diese 15 Minuten hin. 15 Minuten aus Deutschland, die bei uns keine anderen 15 Minuten sind: https://www.prosieben.ch/tv/joko-klaas-gegen-prosieben/video/32-maennerwelten-joko-klaas-15-minuten-clip. (Hinweis: Der verlinkte Inhalt ist für Jugendliche nicht geeignet.)
Bild: Standbild ProSieben, Joko & Klaas
Danke, Jaqueline!
Danke, sprichst du für die, die verstummt sind.
Danke, stellst du dich neben uns mit diesen Worten und Bildern.
Danke!
??? lustig.. ? wow! na ja, NDP (na dann Prost..!..)
ok, wow
Liebe Jaquline, ich hab dienoch selbst erlebt, die Zeit ohne Stimm- und Wahlrecht. Als es ums Frauenstimmrecht ging, gab mir mein Vater die Füllfeder und sagte ich solle es selbst ausfüllen, ein Ja wäre ihm vermutlich nicht so leicht gefallen.
Als ich im Bus einem Mann , dermich immer wieder betatschte nach der dritten Warnung eine Ohrfeige verpasste, fanden viele ; die Ohrfeige sei völlig daneben, ich sei ja selbst schuld und ich provoziere die Männer mit meiner Art.
Das Ergebnis dieses und anderer Vorfälle:
ich schloss mich der Frauenbewegung an.
Es macht mich wütend, dass die Gleichberechtigung noch immer nicht verwirklicht worden ist.
Liebe Frau RR Fehr,
Zur Ungleichstellung, ihren Verursachern und ihre Überwindung
Sie haben vollkommen Recht. Man kann nicht genug auf diese Missstände hinweisen. Ebenso wichtig ist es, alles in seiner Macht Liegende zur Bekämpfung der Ursachen zu tun, ansonsten bliebe alles beim Alten. Welches sind also die Ursachen und wie kann man sie bekämpfen?
Die schlechte Stellung der Frauen, ihr geringes Ansehen und die ihnen von aussen aufgezwungene Betätigungsbeschränkung auf die drei K´s (Kinder, Küche, Kirche), sind nicht vom Himmel gefallen. Massgebliche Verantwortung hatte und haben Kirche und Religion. Diese haben während Jahrtausenden die Rangordnung der Geschlechter als “gottgegeben” behauptet und inkulturiert. Das ist eine Kehrseite kirchlich-religiöser Kulturprägung und es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, diese Tatsache anzusprechen. Zuviel wurde und wird von Kirchen verschwiegen (Bsp. Kindesmissbrauchs-Skandale und deren systematische Vertuschung). Der Staat ist weder einer Kirche, noch einer Religion, sondern der säkularen, religiös-weltanschaulich pluralen und im Kanton Zürich sogar mehrheitlich konfessionsfreien Gesellschaft verpflichtet.
Ich finde es irritierend, wenn insbesondere Sie als “Kirchenministerin” einerseits Kirche und Religion und deren “Werte” einschränkungslos als für die gesamte Gesellschaft “wesentlich” propagieren (obwohl, wie gesagt, über 50% konfessionsfrei) und andererseits bei Hinweisen auf Missstände, so wie den der schlechten Stellung der Frau, die Hautverursacher verschweigen. Das überzeugt nicht. Die Stellung der Frau konnte und kann auch zukünftig nur verbessert werden mit der Schwächung von Kirche und Religion bzw. mit der Stärkung der säkularen Gesellschaft und ihren aufgeklärten und deshalb zukunftsfähigen Werten.
Man muss Kirchen als Regierungsrat nicht aktiv schwächen, aber man muss sie auch nicht derart stärken, wie zu Zeiten, auf die Sie in diesem Beitrag hinweisen, aber genau das will der Regierungsrat mit seiner “Orientierung Staat und Religion” von 2017. Indem man Kirche und Religion weiterhin durch Steuerfinanzierung ein finanziell sorgloses Leben garantiert, macht man sich mitverantwortlich, das Problem der schlechten Stellung der Frau in der Gesellschaft zu perpetuieren, denn der Staat hat kein Recht, Kirche oder Religion vorzuschreiben, welche Werte sie zu vermitteln hätten (Religionsfreiheit) und eine Kirche mit durch Zwangsabgaben gesicherter Existenz ist unabhängig und hat deshalb keinen Anlass, sich den Anliegen und Werten der Gesellschaft zu öffnen.
Die Frau als gleichwertiger Mensch neben dem Mann gehört NICHT zum Erbgut von Kirche und Religion und die Kirchen sind stolz auf ihr “Erbgut” auch wenn es frauenfeindlich, homophob oder gegen Fristenlösung ist und sie wollen es weiterverbreiten. Das äussern sie auch ausdrücklich zum Beispiel im aktuellen Tätigkeitsprogramm für 2020-2025. Dort schreiben sie: “Gerade auch einer sich als säkular verstehenden Gesellschaft kommt es zugute, wenn sie sich regelmässig die Fundamente vergegenwärtigt, auf denen sie steht.” Wirklich? Es gibt grundlegende kirchlich-religiös gegründete “Wert-“Haltungen, insbesondere bezüglich der Stellung der Frau, auf welche die säkulare Gesellschaft alles andere als stolz ist und daran arbeitet, diesen inkulturierten Ballast loszuwerden.
Es ist ein Leichtes auf höchst abstrakter Ebene einen Konsens und damit gesellschaftliche Zustimmung zu finden (zum Bsp. Kirche macht viel im Sozialen), aber das gelingt nur bei unbedarften Menschen, die sich über die unzähligen Dissense im Konkreten (kirchlich-religiöses Frauenbild) hinwegtäuschen lassen. Die Anzahl dieser Menschen schwindet (Entkirchlichung der Gesellschaft). Das hat grundlegende, unabänderbare Gründe: Das Evangelium, die “frohe Botschaft” (Gerechtigkeit, Friede, Nächstenliebe) findet nur deshalb Zustimmung, weil sie abstrakt ist. Die Probleme fangen erst im Konkreten an: Wem soll Gerechtigkeit widerfahrend, wer soll des Frieden willens auf seine Forderung aufgeben und wem gegenüber soll Nächstenliebe praktiziert werden? Das Gerechtigkeitsverständnis von Kirche und Religion neigt stark zu männlicher Selbstgerechtigkeit, das Friedensverständnis neigt zum Frieden, erst nach Unterordnung aller Andersdenkenden und das Nächstenliebeverständnis zu selektiver Bestimmung, wer der Nächste ist.
Seit diesem Jahr, seit 2020, ist die Mehrheit der Bevölkerung des Kantons Zürich konfessionsfrei. Das wird die per April 2021 zu erwartende definitive Statistik bestätigen. Damit ist Konfessionsfreiheit ein wesentliches Strukturmerkmal geworden. In dieser säkularisierungsbedingten Entkirchlichung der Gesellschaft und der mit ihr einhergehenden Verkirchlichung von Religion liegt eine Chance für die Gleichstellung der Frau, aber auch der Anerkennung von Homosexualität, der zivilrechtlichen Ehe für alle, der Sterbehilfe und vieles mehr! Ganz offenbar besitzt die säkulare, konfessionsfreie Gesellschaft andere als kirchlich-religiöse Orientierungspunkte. Es muss ganz offensichtlich konfessionsfreie, säkulare Bezugs- und Orientierungspunkte, welche die Werte der (nun mehrheitlich) konfessionsfreien Gesellschaft Werte prägen, ihr Identität stiften und ihre Kultur prägen. Man kann es nennen wie man will, säkulare Ethik, (evolutionär-)humanistische Ethik, naturalistische Ethik. Es gibt sie, sie wirkt und sie überzeugt immer mehr Menschen, erst recht im Vergleich zu religiöser Moral. Vielleicht öffnen Sie sich dem Gedanken zum Wohl der gesamten Gesellschaft, dass es ausserhalb von Kirche und Religion bzw. sich von diesen kategoriell unterscheidende Bezugs- und Orientierungspunkte gibt, die zunehmend zur vorstaatlichen Grundlage des freiheitlichen, säkularisierten Staates werden, auf den dieser nicht verzichten kann (E.W. Böckenförde) und die es staatlich zu erkennen, anzuerkennen und zu fördern gilt. Das ist nicht Kirche und Religion, sondern für Gemeinsinn und Gemeinwohl unserer unleugbar säkularen, religiös-weltanschaulich pluralen und mehrheitlich konfessionsfreien Gesellschaft.
Freundliche Grüsse
Lars Habermann, lic.iur. HSG
Institut für säkulare Ethik IFSE