
Ich habe in Teil 1 meines Blogs die aktuelle Demokratiekrise in eine Reihe mit früheren solchen Krisen gestellt. Ich halte Geschichtsbewusstsein gerade im gegenwärtigen Umfeld für wichtig: Der Blick zurück hilft uns, die Aktualität einzuordnen. Und er zeigt auf, wie wir frühere Krisen überwunden haben. Darum geht es mir in Teil 2.
Ich möchte einen Punkt voranstellen – er klingt banal, ist aber zentral. Wir haben Krisenphasen überwunden, weil wir uns dafür ein Rüstzeug zugelegt haben. Weil wir an der Demokratie und am Rechtsstaat gearbeitet haben. Weil wir beide weiterentwickelt und ihnen – im Wissen um ihren Wert – Sorge getragen haben.
Wenn sich NZZ-Chefredaktor Eric Gujer über die Demokratieförderung echauffiert und diese sogar zu einer Ursache der gegenwärtigen Krise stilisiert, so ist das also eine ziemlich spektakuläre Verdrehung der Realität.
Die aktive Förderung unserer Demokratien ist wichtig, weil auch die vermeintlich stabilste Demokratie nicht unverletzlich ist. Es ist eine Binsenwahrheit – aber eine wichtige: Unsere Zivilisation hat sich noch nie konstant und gleichmässig vorwärtsentwickelt, sondern in Auf-und-Ab-Bewegungen, in einer Abfolge von Konjunktur und Krise, Es geht zwei Schritte vorwärts. Und dann einen Schritt zurück. In diesen Momenten des Rückschritts ist der Boden brüchiger. Dann sind Staat und Gesellschaften fragil und verletzlich.
Aktuell geht es grad mehrere Schritte gleichzeitig retour. Das ist deprimierend, kommt aber nicht komplett überraschend. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig vorwärtsbewegt – bezüglich Gleichberechtigung, bezüglich Teilhabe, bezüglich der Verbindlichkeit unserer Werte, bezüglich gegenseitiger Achtung, gelebter Diversität und Sensibilität gegenüber Diskriminierungen. Wir haben viel erreicht, und viel von diesem Erreichten ist heute selbstverständlich Teil unseres Alltags.
Chile? Grenada? – Proteste kamen nur von links
Wie stark und nachhaltig viele Demokratien – auch unsere eigene – sich entwickelt und gefestigt haben, zeigt sich exemplarisch daran, wie einhellig bei uns und anderswo die Reaktionen auf die imperialen Phantasien des neuen US-Präsidenten ausfallen. Den Panamakanal und Grönland zu annektieren, Kanada als 51. Bundesstaat in die USA zu integrieren, in Gaza eine «Riviera» zu bauen: grotesk, finden Politiker:innen quer durch die politischen Lager.
Erinnern wir uns doch kurz zurück, wie die Realitäten noch vor wenigen Jahrzehnten waren: Unter aktiver Beteiligung und tätiger Mithilfe der USA und ihrer Geheimdienste putschten Militärjuntas in Chile, in Guatemala, im Iran, im Kongo, in Grenada, in Argentinien und anderswo demokratisch gewählte Regierungen weg
Gab es Proteste? Es gab sie – aber sie kamen nur von links. Die offizielle Schweiz – wie viele andere Regierungen auch – hat geschwiegen oder sogar mehr oder weniger verstohlen applaudiert. Aus Chile wissen wir, dass in der dortigen Schweizer Botschaft die Korken knallten, nachdem Augusto Pinochet die Macht übernommen und Salvador Allende sich das Leben genommen hatte. Max Frisch erwähnt in seiner Rede «Die Schweiz als Heimat» (1974) die «Sturmgewehre schweizerischer Herkunft», welche die Putschisten in Chile gegen die rechtmässige, demokratisch legitimierte Regierung eingesetzt hatten.
Der US-amerikanische Imperialismus hat mich durch meine Jugend begleitet. Er war das fratzenhafte Gesicht Amerikas – sozusagen das Kontrastprogramm zu den Filmen, der Musik und dem ganzen «Way of Life», die uns natürlich fasziniert hatten. Ich glaube, dieses «andere», unschöne Amerika haben wir nach der Wahl von Barack Obama zu rasch vergessen.
Auf Mission
Dieses rasche Vergessen ist so etwas wie die Kehrseite des Fortschritts. 1969 forderte Willy Brandt, wir sollten «mehr Demokratie wagen.». Und tatsächlich ist in der Folge viel geschehen. Wir stehen heute an einem ganz anderen Ort.
Es hat sich gelohnt, dass sich viele Menschen in vielen Funktionen für unsere Demokratien, für unsere Werte und für den zivilisatorischen Fortschritt eingesetzt haben. Die Toleranz gegenüber der flagranten Verletzung unserer Regeln und Prinzipien (beziehungsweise nur schon der Androhung einer solchen Verletzung) ist heute sehr viel kleiner als noch vor ein paar Jahrzehnten. Das haben wir nicht nur, aber auch dem Wirken und den Bemühungen der so genannten «Demokratie-Experten» zu verdanken.
Nach dieser Ära des Fortschritts werden wir nun aber brutal daran erinnert, dass Erreichtes nie in Stein gemeisselt ist. Errungenschaften des gesellschaftlichen Fortschritts sind fragil. Die Gefahr von Demokratiekrisen lässt sich nie vollständig bannen
Gewiss, die Nuancen haben sich verschoben: Früher waren es der Kalte Krieg beziehungsweise die Abwehr der «roten Gefahr», die es aus Sicht der bürgerlichen Elite rechtfertigten, rechtsstaatliche Grundsätze zu verletzen. Heute liegt der Schock vor allem darin, dass die Verachtung von Demokratie und Rechtsstaat, die man sich aus Russland, China und anderen Autokratien gewohnt ist, plötzlich auch in den USA offizielle Regierungsrhetorik ist.
Nicht verändert hat sich dagegen der Motor solcher Krisen: Stets geht es um einen Kreuzzug – um politische Entscheider:innen, die sich auf einer Mission befinden, von dieser getrieben werden und diese Mission als Legitimation verstehen, um in ihrem populistisch-ideologischen Furor Demokratie und Rechtsstaat zu beschädigen.
Wer stellt sich solchen Kreuzzügen in den Weg? Und was können wir, was kann jede und jeder persönlich tun?
Lesen Sie dazu Teil 3 meines Blogs
Bild: Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig vorwärtsbewegt – hier bei uns wie in den USA. Symbolisch dafür: ein Regenbogen-Fussgängerstreifen in Seattle.
Seit Fukuyama und seinem berühmten „Ende der Geschichte“ in den 1990er Jahren, mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Aufkommen des Neoliberalismus, hat man uns glauben gemacht, dass die Demokratie immer einem linearen und aufsteigenden Weg folgt. Aber die Geschichte scheint sich an dieser Ansicht zu rächen, indem sie deutlich macht, dass das, was man einmal gegangen ist, sofort wieder zurückverfolgt werden kann. Rechte und Freiheiten, die wir für „unantastbar“ und „ewig“ halten, als selbstverständlich hinzunehmen, ist der große Fehler, dem wir verfallen.
Umberto Eco sprach von apokalyptisch und integriert. Meiner Meinung nach besteht die große Herausforderung darin, den Trend umzukehren, der „so natürlich wie das Gesetz der universellen Gravitation“ zu sein scheint, wonach die zentristischen und konservativen Parteien in den verschiedenen europäischen Parlamenten bereit sind, den rechtsextremen populistischen Parteien „die Umarmung des Bären“ zu geben, um an der Macht bleiben zu können. Und wir wissen bereits, dass der Wähler zwischen dem Original und der Kopie das Erstere wählt. Auf der anderen Seite sehen wir in den USA deutlich, dass das Amalgam aus Musk-ähnlichen Techno-Autoritären und Vance-ähnlichen ultrakonservativen Nationalisten einen gemeinsamen Nenner hat: Demokratie ist ein Ärgernis, das mit einem CEO an der Spitze überwunden werden kann. Techno-libertärer Guru Thiel (geboren in Deutschland), Mitbegründer von Paypal und Vances Mentor, sagte es sehr deutlich: „Freiheit und Demokratie sind nicht vereinbar“.