Amerika hat gewählt – und ich bin sehr erleichtert über das Resultat. Dabei liegen in diesem Resultat eine Botschaft und eine Verpflichtung, die auch uns angehen. Und die wir sehr ernst nehmen sollten.
Es ging uns wohl allen ähnlich in diesen Stunden und Tagen, während denen auf der anderen Seite des Ozeans die Stimmen gezählt wurden: Es war ein langes Warten und Werweissen, ein Wechselbad der Gefühle, ein Schwanken zwischen Trübsal und Zuversicht. Irgendwann kam mir in diesem Zustand des bangen Ausharrens ein Satz in den Sinn, der in Deutschland in einer Kirche geschrieben steht und der mir einmal begegnet ist: «Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.»
Zumindest im Fall der US-Wahlen darf man sagen: Es ist am Ende tatsächlich nochmals gut gekommen. Wer noch nach Gründen gesucht hatte, weshalb der amtierende Präsident dringend abgewählt gehört, fand diese in den letzten Tagen reichlich: Das unerträglich selbstherrliche Gebahren, das Verächtlichmachen der demokratischen Prozesse und des Rechtsstaats, die repetitive Unterstellung, der politische Gegner betrüge – das alles ist unserer Kultur und unserer Gesellschaft unwürdig.
Drum – ich gestehe es gerne: Der Moment, als am Samstagabend die Pushmeldungen zum Sieg von Joe Biden und Kamala Harris aufblinkten, war ein denkwürdiger Augenblick politischer Glückseligkeit. Ich bin sehr erleichtert.
Die Frage nach dem Warum
Trotz des erfreulichen Ausgangs behält eine Frage, die mich und uns alle schon vor vier Jahren beschäftigt hat, ihre Dringlichkeit. Die Frage nach dem Warum. Warum stimmt fast die Hälfte aller Amerikanerinnen und Amerikaner für einen Mann, der unablässig gegen unsere zivilisatorischen, demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien pöbelt?
Die schlechteste aller Antworten wäre, selbstgerecht den Kopf zu schütteln und den Trump-Wählerinnen und -Wählern Unvermögen, Ignoranz und einen getrübten Realitätssinn zu unterstellen.
Wahrscheinlich ist es gerade umgekehrt. Der Impuls, Trump zu wählen, dürfte bei vielen Amerikanerinnen und Amerikanern aus einer sehr klaren Wahrnehmung ihrer eigenen Realität heraus entstanden sein. Diesen Schluss legen die Ausführungen nahe, die der amerikanische Philosoph Michael Sandel in seinem neuen Buch präsentiert (und welche die NZZ in eine kluge Analyse gepackt hat). Auch wir Europäerinnen und Europäer tun gut daran, diese Ausführungen ernst zu nehmen.
In unserer Leistungsgesellschaft gilt das Prinzip, dass jeder den Aufstieg schaffen kann. Er muss nur wollen. Wurden in aristokratischen Zeiten Status, Macht und Privilegien vererbt, so gehört es in der westlichen Welt heute zum Selbstverständnis der Eliten, dass sie ihren Status der eigenen Leistung zu verdanken haben. Das Selbstverständnis, dass alles möglich ist, wenn man entschlossen genug will, wird auch vom Marketing kultiviert – man denke nur an die Slogans der grossen Sportartikelhersteller: «Just do it» oder «Impossible is nothing».
Ein entwürdigender Mythos
Dabei wissen wir doch eigentlich alle: Die Behauptung, dass alles möglich sei, wenn man sich nur genügend anstrenge, ist ein entwürdigender Mythos. Millionen, ja, Milliarden von Menschen strengen sich auf diesem Planeten tagein, tagaus ungeheuer an – und schaffen es trotzdem kaum, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Für alle diese Menschen ist die Botschaft, dass es jeder schaffen kann, der es schaffen will, eine schwere Demütigung. Denn die Botschaft heisst im Umkehrschluss: Alle, die es nicht zu Wohlstand und Ansehen gebracht haben, die sich keine prestigeträchtigen Jobs zu angeln vermochten – sie sind selber schuld. Sie hätten sich ja mehr einsetzen können, dann wären sie auch Teil der Elite geworden. Das ist blanker Hohn und eine verletzende Geringschätzung all jener, die mit ihrem täglichen, schlecht bezahlten und oft sehr anstrengenden Tun unsere Gesellschaft und unsere Volkswirtschaft am Laufen halten.
Dass diese Menschen mit Politikern sympathisieren, welche die Eliten, das Establishment und deren Prinzipien ins Visier nehmen und die Wut über die elitäre Überheblichkeit bewirtschaften – darin liegt eine Logik, die uns nicht überraschen darf. Und die wir – im Gegensatz zu den Populisten selber, welche die Frustration und die Enttäuschung dieser Menschen für ihre eigenen Zwecke ausnutzen – auch nicht verurteilen sollten. Vielmehr sollten wir diese Frustration und Enttäuschung als Auftrag verstehen. Nämlich als Auftrag, alles zu tun, um die Teilhabe zu stärken. Es ist fatal, wenn eine Gesellschaft auseinanderfällt – wenn sich grosse Teile nicht mehr dazugehörig, sondern ausgegrenzt und gedemütigt fühlen. Der Blick in die USA sollte uns eine Mahnung sein.
Die Teilhabe stärken
Bei uns ist nicht alles besser: Die Verabsolutierung des Leistungsprinzips und der Elitedünkel – die gibt es (allerdings weniger ausgeprägt als in den USA) auch bei uns. Wir haben aber etwas, was mir Mut und Zuversicht gibt: Die Förderung der Teilhabe ist ein Legislaturziel der Zürcher Regierung. Dieses Ziel ist für mich ein starkes, wichtiges Symbol – und eine persönliche Verpflichtung. Ich fühle mich verpflichtet, alles dafür zu tun, dass möglichst viele Menschen sich als Teil der Gesellschaft ernst und mitgenommen fühlen.
Denn: Wir brauchen einander. Wie brauchen jeden und jede. Wir sind fundamental aufeinander angewiesen. Deshalb ist die Förderung der Teilhabe ein Engagement für die Gesellschaft als Ganzes. Es geht dabei um viele Facetten – auch und nicht zuletzt darum, die Ungleichheit zu mildern. Zum Beispiel in der Arbeitswelt. Hier besteht ein erhebliches Missverhältnis zwischen Bedeutung und Prestige: Müllmänner und -frauen, Reinigungs-, Gesundheits- oder Kita-Personal – sie alle leisten elementar wichtige Arbeit, erhalten aber dafür nur wenig Wertschätzung und schon gar nicht angemessene Löhne.
Wenn wir hier ansetzen, tragen wir dazu bei, dass uns Erfahrungen erspart bleiben, wie sie die USA machen müssen. Bloss müssen wir uns dabei bewusst sein: Warme Worte des gegenseitigen Respekts sind für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Gefühl des Miteinanders wichtig. Aber sie reichen nicht aus. Es braucht Taten.
Bild: «Biden beats Trump» – die denkwürdige Schlagzeile der «New York Times», nachdem die Wahl entschieden war. (Quelle: Screenshot «New York Times»)
[…] der politischen Macht zu den Wählerinnen und Wählern habe ich vor knapp vier Jahren schon einmal geschrieben . Leider hat sich in der Zwischenzeit nichts an der Aktualität des Themas […]