Rechte Parteien sind gerade im Hoch. Was lässt sich daraus schliessen? Und was lässt sich dagegen unternehmen? Soll man sie einbinden oder hilft nur die Strategie «Brandmauer»?
In Deutschland hat die AfD in zwei Bundesländern stark abgeschnitten. In den USA zeigen Umfragen die beiden Kandidierenden für die Präsidentschaft gleichauf, was bedeutet: Die Hälfte der Stimmberechtigten ist offenbar gewillt, einem autoritären Populisten die Stimme zu geben. Auch in anderen Ländern – Italien, Frankreich – erzielen rechtspopulistische Parteien Wahlsiege.
Erleben wir gerade den grossen Rechtsruck?
Man könnte sich nun mit der Frage aufhalten, wo genau die Trennlinie zwischen akzeptiert rechtsbürgerlich und geächtet rechtsextrem verläuft. Allerdings ist diese Frage weder besonders originell noch führt sie zu erhellenden Antworten.
Abgehängt und machtlos
Wichtiger ist die Frage: Warum wählen so viele Menschen AfD oder Donald Trump oder das Redressement National oder sonst eine politische Kraft am rechten Rand?
Auf der Suche nach einer Antwort bin ich auf ein Interview gestossen, das die NZZ mit dem Generationenforscher Rüdiger Maas geführt hat.
Maas stellt in seinen Untersuchungen fest, dass die jungen Menschen in Sachsen und Thüringen aus ihrer Sicht nicht extrem, sondern mittig wählen. Sie wollen ganz einfach «ein gutes Leben» und schliessen aus den Verlautbarungen der AfD, dass diese ihnen zum «gutes Leben» verhelfen wird. Eine Welt, die noch in Ordnung ist. Wo ein Mann ein Mann sein darf. Wo die Frau Mann und Kindern ein hübsches, warmes Zuhause bietet und wo die Beiz an der Ecke Bier mit Wurst und nicht Döner mit Minzentee anbietet. Dieser Wunsch ist, wenn man den jungen AfD-Wählenden zuhört, nicht extrem, sondern «normal».
Abgesehen davon, dass es in der Realität eine solche Traumwelt nie gegeben hat und die Vorstellung vom idealen Gestern demnach eine Illusion ist, führt der Befund von Forscher Maas zu schwierigen Fragen.
Muss man daraus schliessen, dass das Resultat der beiden Landtagswahlen gar nicht so besorgniserregend ist? Schliesslich zeigen die Untersuchungen, dass die Menschen einfach etwas beschaulich-konservativ sind, aber nicht im gefährlichen Sinn rechtsradikal.
Oder zeigt der Befund das Gegenteil? Nämlich dass es der AfD gelingt, ihr wahres Gesicht und ihre wahren Motive zu verschleiern und sich dank geschickter Präsenz auf den sozialen Medien ein harmloses, quasi traditionelles CDU-Image zu geben. Die Resultate wären dann umso besorgniserregender.
Die zweite These vertritt ein Kolumnist des «Magazins» und regt an, die jungen Menschen punkto Medienkompetenz fitter zu machen.
Diskussionen über solche Fragen führen rasch zum Thema, welcher Umgang sich mit einer Partei à la AfD empfiehlt. Soll man sie einbinden und darauf hoffen, dass dies zur Entzauberung führt? Oder bietet das Konzept der Brandmauer den wirksameren Schutz gegen Rechts?
Es geht um Distanz
Das Thema des richtigen Umgangs ist wichtig, keine Frage. Für einen nachhaltigen gesellschaftlichen Fortschritt braucht es aber einen Schritt zurück. Wir brauchen Antworten auf die Frage: Weshalb fühlen so viele Menschen sich selber und ihre Sorgen von den traditionellen Parteien nicht mehr vertreten und ernst genommen? Schliesslich ist das der Grund, weshalb sie nach Alternativen suchen und den Traditionsparteien scharenweise den Rücken zukehren.
Ich glaube, es geht um Distanz, ums Gesehen- und Gehört-Werden und um Vertrauen.
Nehmen wir stellvertretend die Menschen in Ostdeutschland. Für sie ist die etablierte Politik weit weg. Die Bilder aus den Machtzentren der Welt haben so ziemlich gar nichts mit dem Leben zu tun, das sie führen. Während sich die europäischen Grossstädte immer ähnlicher werden, wächst die Kluft zwischen diesen Städten und ihren ländlichen Umgebungen stetig an. Die Distanz zwischen Paris und Wien ist heute kleiner als die Distanz zwischen Paris und dem Norden Frankreichs.
Diese Entfernung löst Ohnmacht und Wut aus: «Die Regierung in der Hauptstadt entscheidet über uns, hat aber keine Ahnung, wie es uns geht.»
Falsch ist dieses Empfinden nicht. Die wenigsten Politiker:innen wissen, wie es ist, wenn an allen Ecken und Enden das Geld, die Zeit und die Kraft fehlen. Wie es ist, wenn man den Kindern nicht bieten kann, was sie bräuchten und stattdessen ständig von der Schulleitung wegen disziplinarischer Probleme zitiert wird. Wie es ist, wenn die Nachbarin wegzieht, weil sie keine Perspektive mehr sieht und die eigene Heimat damit noch öder wird.
Über das Thema der fehlenden Nähe der politischen Macht zu den Wählerinnen und Wählern habe ich vor knapp vier Jahren schon einmal geschrieben . Leider hat sich in der Zwischenzeit nichts an der Aktualität des Themas geändert.
Wo liegen die Wurzeln?
Wir machen es uns also zu einfach, wenn wir die Höcke-, Trump- oder Le-Pen-Wählenden einfach mit dem «Rechtsextrem»-Stempel versehen. Vor allem ändert eine solche Etikettierung rein gar nichts an ihrem Wahlverhalten.
Wenn wir – die Verfechter:innen der rechtsstaatlichen, auf Kompromiss, Austausch und Integration ausgerichteten Demokratie – die politische Realität in unsere Richtung verändern wollen, müssen wir an der Wurzel ansetzen.
Also bei den Themen Kaufkraft, Wohnen und Zukunft der Kinder. Das machen intelligente Volksparteien bereits und ist sicher richtig.
Doch es ist noch nicht alles.
Die obigen Überlegungen zeigen, dass es nicht nur um das «Was?» in der Politik geht. Es geht genauso sehr um das «Wie?».
Machen wir einfach nur Politik für die Menschen oder machen wir sie mit den Menschen?
Setzen wir auf Erklärungen und Beschwichtigungen (im Sinn und Geist von Angela Merkel mit ihrer Raute und ihrer Beteuerung: «Lassen Sie mich einfach machen, dann kommt es gut.»)? Oder setzen wir auf Teilhabe, auf Mitsprache und Mitgestaltung?
Eine Gesellschaft ist stark und gesund, wenn sie alle einlädt, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen und dieses mitzugestalten – wenn sie also eingrenzt, statt ausgrenzt.
Eine solche Gesellschaft ist resilienter und widerstandsfähiger gegen Lügen, Verführung und Schuldzuweisungen. Teilhabe ist die beste Prophylaxe gegen das Gefühl des Abgehängt- und Ausgeschlossen-Seins.
Unzufriedenheit konstruktiv kanalisieren
Die Schweiz ist hier im Vorteil. Das Streben nach einer breiten Beteiligung – zumindest in politischer Hinsicht – ist Teil des Systems. Unsere direkte Demokratie ermöglicht sehr viel mehr Teilhabe als das System der parlamentarischen Demokratie. Die Volksrechte sind Vehikel, um Unzufriedenheit und Veränderungswillen konstruktiv zu kanalisieren.
Wer die Leistungen des politischen Establishments unbefriedigend findet, kann dies in einem direkt-demokratischen System konkret und spezifisch artikulieren. Und übernimmt damit Mit-Verantwortung.
Unzufriedene können selber einen Veränderungseffort anstossen, indem sie eine Initiative oder ein Referendum lancieren. Oder sie können sich zumindest an einem solchen Effort beteiligen, indem sie ein Volksbegehren unterschreiben oder an der Urne unterstützen.
Mehr als Erbauungsrhetorik
Dabei zeigt die Schweizer Geschichte, dass die segensreiche Wirkung unserer Volksrechte nicht einfach nur 1.-August-Erbauungsrhetorik ist. Sie ist die Realität. Konkret: Legt bei Wahlen ein Lager überproportional zu, folgt anschliessend eine korrigierende Gegenbewegung bei den Sachabstimmungen.
Damit sorgt die direkte Demokratie für eine Form von politischen Checks and Balances.
Kommt hinzu: Die direkte Demokratie ist auch ein Hilfsmittel gegen die Ungleichheit. Letztere ist der Nährboden des Abgehängt-Empfindens – und dies mit gutem Grund: Die ökonomische Ungleichheit ist tatsächlich viel zu gross. Auch bei uns.
Aber immerhin haben wir es dank direkt-demokratischer Entscheide gegen verschiedene Steuererleichterungsvorlagen und für sozialpolitische Reformen (13. AHV-Rente) geschafft, Gegenakzente zur Ungleichheit zu setzen.
Natürlich ist die Debatte, wie mit Parteien à la AfD umzugehen sei, wichtig.
Nachhaltiger und langfristig wirkungsvoller ist aber, wenn wir dafür sorgen, dass sich die Menschen nicht machtlos und abgehängt, sondern ernst- und wahrgenommen fühlen. Dass man mit ihnen Politik macht und nicht für sie.
Bild: Warum erhält die AfD soviel Unterstützung von jungen Menschen? (Foto PD)
Jose Antonio Gordillo Martorell schrieb
Dies ist ein großartiger Artikel. Und als großartiger Artikel wirft er wichtige Fragen und konkrete Erfahrungen und Initiativen auf, mit denen diesem populistischen Abdriften entgegengewirkt werden kann.
Es gibt noch viele Unbekannte am Horizont. Die AfD nutzt Videoprogramme mit künstlicher Intelligenz, um die „glückliche Vergangenheit“, die es nie gegeben hat, zu rekonstruieren und sie jungen Brandenburgern schmackhaft zu machen. Diese Parteien haben Tik Tok und jetzt KI oder eine Kombination aus beidem sehr effektiv eingesetzt, um junge Menschen anzusprechen, indem sie ihnen das Gefühl geben, gehört zu werden, wichtig zu sein, Teil von etwas zu sein. Ich denke, das ist die große Herausforderung für sozialdemokratische Parteien. Ein neues Narrativ zu schaffen, das soziale Medien und KI auf eine völlig andere Art und Weise nutzt. Dies ist bereits von Leuten wie der ehemaligen taiwanesischen Digitalministerin Audrey Tang getan worden, die gezeigt hat, dass man hybride Gemeinschaften junger Menschen schaffen kann, die auf Respekt, Toleranz und dem Feiern von Vielfalt basieren, anstatt auf Hass, Angst und Ressentiments.