
Ich habe über die Festtage in Interviews im Tagi und in der NZZ die Idee einer Impfpflicht skizziert. Diese Idee möchte ich auch hier in meinem Blog erläutern. Eine sinnvoll gestaltete Impfpflicht wäre ein Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden.
Die Grundidee ist einfach: Wir brauchen Klarheit! Die aktuelle Lage ist verfahren, der Ton der Diskussionen ist oft bösartig. Menschen, ob sie nun für das Impfen sind oder dagegen, stehen Nachbarn, Freundinnen oder Verwandten gegenüber, die das genaue Gegenteil wollen und das mit grosser Vehemenz. Die Meinungen sind gemacht, die Grenzen zwischen den Lagern sind gezogen. Es bewegt sich kaum mehr etwas. Nur die Heftigkeit der Vorwürfe und damit der gegenseitigen Verletzungen nimmt noch zu. Diese Situation habe ich in Interviews als toxisch bezeichnet. Aus dieser Sackgasse müssen wir herauskommen.
Auch wenn es auf den ersten Blick überraschend tönen mag: Die Impfpflicht ist ein Ausweg, und zwar, weil sie Klarheit schafft. Schauen wir uns die beiden Seiten an:
Die deutliche Mehrheit in der Bevölkerung, die sich bereits mehrfach hat impfen lassen und die das Covid-Gesetz gutgeheissen hat, ist ungeduldig. Sie will Fortschritte in der Pandemiebekämpfung, und sie will nicht, dass eine Minderheit, die «keine Lust» aufs Impfen hat, das Funktionieren der akutmedizinischen Versorgung gefährdet. Für diese Mehrheit wäre eine Impfpflicht ein solcher Fortschritt, weil sie die Impfung zur Regel macht und die Grundlage für Sanktionen schafft.
Aber auch den Impfskeptikern bringt die Pflicht etwas. Sie stehen heute unter grossem gesellschaftlichem Druck, wissen aber nicht, wohin dieser Druck führt. Sie geben sich entsprechend kämpferisch. Die Impfpflicht hilft auch ihnen: Ungeimpfte verlieren zwar gewisse Zugangsrechte. Zu diffus drohenden Zwangsmassnahmen mit all ihren negativen Folgen wird es aber nicht kommen. Wer sich einer Impfung aus innerer Überzeugung verweigert, kennt dank der Impfpflicht die Konsequenzen. Die Impfpflicht gibt allen die Gewissheit und die Freiheit, ihren Weg wählen zu können.
Ziel: Brücken bauen
Auch der Gesellschaft als Ganzes verschafft die Impfpflicht neue Chancen: Der Staat bekommt die Möglichkeit, alle anzusprechen und mit aktuellem Wissen zu versorgen. Das Unwissen nimmt ab, eine höhere Impfquote dank individueller Aufklärung wird möglich. Das Beseitigen von Unklarheit kann der Gesellschaft eine gewisse Versöhnung und mehr Geschlossenheit bringen.
Nicht zufällig spricht der Deutsche Ethikrat in seiner Ad-Hoc-Empfehlung vom 22. Dezember 2021 vom Brückenbauen, wenn er sich für eine erweiterte Impfpflicht ausspricht. Wie wichtig solche Brücken sind, zeigt ein Blick in die Kommentarforen und Debatten in den Sozialen Medien. Solange die Diskussion nur allgemein und nicht anhand konkreter Eckpfeiler geführt wird, richtet sie maximalen Schaden an in Form von gesellschaftlichem Auseinanderdriften und schafft einen minimalen Nutzen, indem nur geredet, aber nichts entschieden wird.
Diese toxische Diskussion müssen wir so rasch wie möglich beenden. Das tun wir, wenn wir konkret werden und die Frage der Impfpflicht auf den Boden bringen. Um was geht es? Wie soll eine Impfpflicht ausgestaltet sein?
Kein Impfzwang!
Das Wichtigste zu Beginn: Ich rede von Impfpflicht und nicht von Impfzwang. Ein Impfzwang ist mit unserer Verfassung und der internationalen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit darf nicht angetastet werden. Darüber, ob ich mich impfe, entscheide ich auch bei einer Impfpflicht selber.
Eine Impfpflicht ist ein erheblicher Eingriff in unsere Grundrechte. Sie muss deshalb in einem ordentlichen Gesetz verankert werden, so dass das Volk in einem Referendum darüber befinden kann. Das demokratische Verfahren ist mir auch persönlich wichtig: Ich bin dafür, dass wir den gesetzgeberischen Prozess in Gang setzen, damit wir am Ende klar sehen, wie eine Impfpflicht funktionieren würde, mit welchen Regeln und Rechten sie ausgestattet wäre. Ich bin nicht für eine Impfpflicht «koste es, was es wolle». Ich sage dann Ja, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt sind.
Drei Bedingungen
Nebst der demokratischen Legitimation müssen für mich namentlich drei weitere Bedingungen erfüllt sein, damit ich mich zu einem Ja durchringen kann.
Erstens: Das Gesetz muss befristet sein, zum Beispiel auf maximal drei Jahre, und es muss sich ausschliesslich auf dieses Virus beschränken. Zweitens: Eine Impfpflicht muss zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung epidemiologisch noch nötig sein. Drittens: Die Impfpflicht muss aufs Impfen und nicht aufs Büssen fokussieren.
Was bedeuten diese drei Bedingungen im Detail?
Zur Befristung: Sie zwingt uns, immer wieder neu darüber zu befinden, ob die Pflicht noch angebracht ist. Gut möglich, dass sie schon vor Ablauf der drei Jahre ausser Kraft gesetzt werden kann. Die Pandemie hat uns aber auch gelehrt, dass es länger dauern kann als erwartet. Dann müsste eine Verlängerung per neuem Gesetzesbeschluss und neuer Referendumsabstimmung erneut demokratisch legitimiert werden.
Zur epidemiologischen Notwendigkeit: Der demokratische Prozess bringt es mit sich, dass über eine Impfpflicht frühestens im kommenden Mai, eher im kommenden September abgestimmt würde. Ob eine solche Pflicht aus epidemiologischen Gründen dann noch nötig ist, muss zum Zeitpunkt des Inkrafttretens aufgrund transparenter Kriterien festgestellt werden.
Zur Frage der Bussen: Faktisch haben wir heute mit dem Zertifikat schon eine halbe Impfpflicht. Wer nicht geimpft wird, bleibt von gewissen Orten ausgeschlossen. Dies würde auch bei einer Impfpflicht als Sanktion reichen. Insbesondere Bussen braucht es keine, denn diese sind sozial ungerecht und sind letztlich nur ein behördlicher Leerlauf mit hohen Kosten. In einem ersten Schritt müssen die Bussen nämlich eingetrieben werden. Wer sie nicht zahlt, muss eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen. Das verursacht grossen bürokratischen Aufwand. Zudem wären Ungeimpfte im Gefängnis ein zusätzliches Risiko, und gewiss wären sie nach ihrer Entlassung noch immer nicht zum Impfen motiviert. Das ganze Spiel würde also wieder von vorne beginnen.
Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt: Eine Impfplicht darf kein Freipass sein für die Arbeitgeber:innen im Umgang mit ungeimpften Personen. Schon heute haben Arbeitgeber:innen die Möglichkeit, im konkreten Fall zwischen geimpften und ungeimpften Arbeitnehmenden zu differenzieren. Wer eine exponierte Tätigkeit ausübt und beispielsweise ständig im Kontakt zu vulnerablen Personen steht, kann über eine Weisung zur Impfung verpflichtet werden. Zusätzliche arbeitsrechtliche Folgen sollte die Impfpflicht nicht haben – das entsprechende Gesetz sollte dies ausdrücklich festhalten.
Unterstützung anbieten
Aber was würde denn mit einer Impfpflicht überhaupt neu?
Eine Impfpflicht klärt die Rechte und Pflichten von Bürgerin und Staat. Das heisst konkret:
Mit der Pflicht fürs Individuum, sich zu impfen, bekommt der Staat das Recht, mit den Bürgerinnen und Bürgern in einen direkten Kontakt zu treten. Er kann Ungeimpfte behördlich zu einem Impftermin in einem bestimmten Impfzentrum aufbieten. Er kann sie bei Nichterscheinen mahnen, kann sie anrufen, nach ihrer Begründung fragen und mit ihnen in ihrer Muttersprache kommunizieren. Er kann ihnen Unterstützung anbieten und sie zu einer Impfberatung einladen.
Der Staat kann mit diesen Massnahmen auch jenen Menschen zu einer Impfung verhelfen, die sich heute aufgrund ihrer beschränkten sozialen und gesellschaftlichen Ressourcen nicht zurechtfinden. Darüber hinaus werden mit diesen Massnahmen Menschen angesprochen, die bisher gezögert haben, auf ihre Fragen keine Antworten finden oder grundsätzlich noch auf einen Schupf warten.
Der Staat bekommt durch die Impfpflicht auch neue Pflichten (und damit die Bürgerin und der Bürger neue Rechte). Der Staat muss die Impfung nämlich kostenlos, sprich steuerfinanziert und in guter Qualität zur Verfügung stellen. Er ist verpflichtet, die persönliche Situation der Menschen zu berücksichtigen. Er muss das Angebot diskriminierungsfrei und mehrsprachig zur Verfügung stellen. Zudem muss er ein einfach erreichbares, dezentrales, fein verteiltes und hindernisfrei zugängliches Angebot mit kurzen Anfahrtswegen zur Verfügung stellen.
Eine Impfpflicht heisst damit im Kern: Wer auf behördlichen Massnahmen wie Impfaufforderung oder Impfberatung nicht reagiert, gilt als ungeimpft und bleibt von einigen Angeboten des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, solange die Impfpflicht besteht.
Schlimmere Alternativen verhindern
Ich bin überzeugt: Eine demokratisch legitimierte, befristete, epidemiologisch begründete Impfpflicht, die aufs Impfen und nicht aufs Büssen fokussiert, kann einen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden leisten und schlimmere Alternativen verhindern.
Als schlimmere Alternativen drohen am politischen Horizont eine Kostenpflicht für Menschen, die ungeimpft auf der Intensivstation landen. Dies wäre ein Tabubruch mit unabsehbaren Folgen. Würden als nächstes den Rauchern oder den stark übergewichtigen Menschen spezifische Zusatzkosten auferlegt? Eine ebenfalls schlimmere Alternative wäre eine Triage, bei der ungeimpfte Covid-Erkrankte nicht mehr richtig versorgt würden. Das wäre ein fundamentaler Verstoss gegen die medizinethischen Grundlagen und damit eine enorme Belastung für das medizinische Fachpersonal.
Ob wir im nächsten Herbst noch eine Impfpflicht brauchen, wissen wir nicht. Damit wir sie aber dereinst nicht im Notfall – in einer Hauruck-Übung und ohne demokratische Legitimation – einführen müssen, sollten wir die Diskussion jetzt konkretisieren und die Gesetzesberatungen aufnehmen.
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