
Heute startet in den USA der neue Präsident. Das ist unerfreulich – doch statt zu bedauern, was wir nicht ändern können, schlage ich einen anderen Weg vor: Wir sollten uns bewusst machen, welche Qualitäten unser eigenes politisches System hat. Es ist nämlich weder Glück noch Zufall, dass es keinen Schweizer Trump gibt. Es gibt dafür gute Gründe.
Hart, unversöhnlich und auf den eigenen Nutzen fixiert, antisolidarisch, isolationistisch und nationalistisch: Das ist die Rhetorik der neuen Machthaber in den USA. Es ist ebenso die Rhetorik der FPÖ, die in Österreich vor der Machtübernahme steht. Und es ist auch die Rhetorik der deutschen AfD, die nach den Wahlen im Februar zwar nicht an der Spitze stehen, aber eine starke politische Kraft sein wird. Ich könnte die Aufzählung noch weiterführen.
Die politische Landkarte hat gerade eine eher deprimierende Färbung. Trotzdem finde ich, wir sollten uns nicht allzu lange damit aufhalten, den politischen Zeitgeist zu beklagen.
Viel produktiver finde ich eine andere Reaktion – nämlich das Nachdenken darüber, weshalb wir in der Schweiz weder einen Trump noch einen Kickl noch einen Orban haben und weshalb selbst ein überdurchschnittlich begabter Populist wie Christoph Blocher mit seiner Partei bei einem Wähler:innenanteil von rund dreissig Prozent stehen geblieben ist. Auch seine Nachfahren bei der SVP verharren bei diesem Anteil.
Das politische Klima ist in der Schweiz nach wie vor vergleichsweise zivilisiert, was unser Land im aktuellen Umfeld zu einem Ausnahmefall macht.
Föderalismus und direkte Demokratie
Warum ist das so? Es ist das Verdienst unseres föderalen, direktdemokratischen Systems, das wir seit vielen Generationen praktizieren – und das bewirkt hat, dass sich die Kompromisskultur in unserer DNA eingenistet hat.
Unsere Volksrechte, insbesondere das Referendum, haben dazu geführt, dass wir über parteipolitisch breit abgestützte Konkordanzregierungen verfügen. Denn die Erfahrung hat gezeigt: Der Ausschluss einer gewichtigen politischen Kraft aus der Regierungsverantwortung führt dazu, dass diese Kraft mit Referenden den politischen Betrieb lahmlegen kann. Unser System funktioniert dann, wenn alle starken Kräfte mit ihm Regierungsboot sitzen. Vielleicht dauert es in einer Konkordanzregierung länger, bis ein guter Kompromiss gefunden ist – aber wenn er einmal gefunden ist, ist er breit abgestützt und im politischen Prozess eher mehrheitsfähig.
Ein Konkordanzsystem zwingt die Beteiligten zum Miteinander-Reden. Wer zusammen regiert, muss zusammen reden. Es geht nicht anders. Und so lange geredet wird, wird nicht geprügelt.
Reden statt keilen
Klingt simpel, ist aber mit Blick auf die Weltlage alles andere als eine Banalität: In den USA oder in Österreich sind die parteipolitischen Gegner kaum mehr in der Lage, miteinander zu reden. Es wird nur noch gekeilt, beleidigt und beschimpft.
Und selbst innerhalb parteipolitischer Allianzen funktioniert die Zusammenarbeit nicht mehr. Aktuelles Beispiel: In Österreich hatten die Gegner der FPÖ ein gemeinsames Oberziel: die Regierungsbeteiligung der in Teilen rechtsextremen Gruppierung zu verhindern. Sie scheiterten, weil einzelne Positionen in den eigenen Parteiprogrammen wichtiger zu sein schienen als das eigentliche Ziel. Aus der Perspektive der kompromisserprobten Schweiz ist das absolut unverständlich.
Neben den Volksrechten gibt es weitere Gründe, weshalb sich in der Schweiz eine Kultur des «Miteinander-Redens» entwickeln konnte. Ein wichtiger ist, dass sich deren Nutzen ganz konkret – und zwar direkt vor der eigenen Haustüre – zeigt. Auf Gemeindeebene ist es nebensächlich, in welcher Partei Gemeinderat X oder Gemeinderätin Y sind. Wichtig ist allein, dass die Gemeindepolitiker:innen zusammenarbeiten und für die anstehenden Herausforderungen pragmatische Lösungen finden. In den allermeisten Gemeinden gelingt das reibungslos.
Doppelter Segen
Und dann gibt es noch einen wichtigen Punkt: In Mehrheitssystemen übernimmt die siegreiche Partei wenn möglich alleine, in den allermeisten Fällen aber zusammen mit Partnerparteien in einer Koalitionsregierung die Macht. Die regierenden Parteien schreiben gemeinsam ein Regierungsprogramm und haben den Anspruch, davon so viel wie möglich umzusetzen.
Bei uns gibt es weder wechselnde Mehrheitskoalitionen noch Regierungsprogramme, was ein doppelter Segen ist: Wer eine Mehrheit bilden kann – besonders drastisch sichtbar aktuell in den USA – fühlt sich im Recht. Auch wenn diese Mehrheit nur 50,1 Prozent der Bevölkerung hinter sich hat, nehmen die Mehrheitsvertretenden für sich in Anspruch, die Wahrheit zu besitzen.
Das ist nicht nur deshalb ein Problem, weil Politiker:innen, die sich im Recht wähnen, damit aufhören, sich zu hinterfragen und dem politischen Gegner zuzuhören – ist ja nicht mehr nötig, wenn man im Recht ist… Hinzu kommt, dass die von den Mehrheitsvertretenden propagierte Wahrheit oft schon nach vier Jahren von einer ganz anderen Wahrheit abgelöst wird. Ich glaube nicht, dass es dem Ansehen der Politik in der Bevölkerung hilft, wenn Richtig und Falsch alle vier Jahre wechseln.
Dass es bei uns keine Regierungsprogramme gibt, ist ebenfalls ein Segen. Solche Programme führen dazu, dass in der Politik die Disziplin die Kreativität ersetzt. Ich finde das schade. Ich glaube, ein Gemeinwesen profitiert mehr, wenn sich die politischen Akteur:innen in wechselnden Koalitionen von Vorlage zu Vorlage bewegen. Wenn also jede Partei die Freiheit hat, sich nach den aktuellen Gegebenheiten zu richten und nicht stur an einem vor Jahren geschriebenen Programm orientieren muss.
Miteinander singen!
Gerade am heutigen Tag, an dem sich in den politisch tief gespaltenen USA mit Getöse der neue Machtapparat installiert, liegt mir eine kleine Anekdote besonders am Herzen. Sie zeigt – so finde ich – sinnbildlich auf, weshalb unser politisches System gerade in stürmischen Zeiten ein Leuchtturm ist.
Kürzlich trafen sich an einem Anlass Regierungsvertretende aus den verschiedensten Kantonen. Wir haben miteinander geredet. Wir haben miteinander diskutiert – durchaus kontrovers. Und dann haben wir miteinander gesungen – traditionelle Volkslieder genauso wie Lieder aus der Arbeiter:innenbewegung. Es war grossartig. Ein Land, in dem die Regierungsrätinnen und Regierungsräte von links bis rechts miteinander singen: Ein solches Land hat auch und gerade in anspruchsvollen Situationen allen Grund zur Zuversicht.
Foto: Ab heute ist “President Trump” wieder im Amt. (Quelle PD)
Die Demokratie in der Schweiz scheint mir eine der fortschrittlichsten der Welt zu sein. Die Kultur des Referendums ist einer der großen Beiträge, die jedem Bürger das Gefühl geben, ein wichtiger Teil des Entscheidungsprozesses zu sein. Die Tatsache, dass diese Kultur von Geburt an vorausgesetzt wird, ist der Schlüssel dafür, dass sich jeder in seiner demokratischen Beteiligung herausgefordert und mitverantwortlich fühlt. Dies ist Jürgen Habermas’ Konzept des kommunikativen Handelns in die Tat umgesetzt. Die Möglichkeit zu sprechen, die Tür offen zu lassen, damit der andere mich mit seinen Argumenten überzeugen kann, nicht weil er mehr schreit.Dieser Beitrag hat mich sehr an Monica Guzmans Buch „So habe ich es mir nie vorgestellt“ erinnert. In diesem Sinne ist die Schweizer Demokratie auf ganz natürliche Weise ein ausserordentlicher Konsensbildner. Ich liebe das Beispiel des gemeinsamen Singens. Politiker in anderen Ländern sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Jose
Bedenkenswerte Kolumne von Jaqueline Fehr. Zur “Feier” der Intronisation von Antidemokrat Trump!