Links gleich woke: Die Gleichung ist im rechten Lager beliebt. Und falsch: Wokeness ist keine linke, sondern eine rechte Obsession. Allerdings kommt diese Obsession nicht von ungefähr. Sie bringt vielmehr zum Ausdruck, wie viel sich verändert hat.
Vor ein paar Tagen stiess ich in der NZZ wieder einmal auf einen Artikel , in dem sich ein Autor ausgiebig mit der «woken Kulturrevolution» beschäftigt hatte. Woke Menschen würden «einer Moralideologie mit manichäischen und maoistischen Zügen» folgen. «Als doktrinäre Strömung mit wenig philosophischem Tiefgang» sei diese Ideologie bestrebt «den öffentlichen Diskurs (zu) kontrollieren, was ihren Hyperfokus auf politisch korrekte Sprache» erkläre.
Wow! Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welchem Pathos die Anti-Wokenes-Aktivist:innen ihren Kreuzzug führen. Irgendetwas muss sie – wie man neudeutsch sagt – kräftig triggern.
Versuchen wir es einmal nüchtern: Besteht tatsächlich Grund zur Aufregung? Werden wir wirklich von einer machtvollen woken Kulturrevolution erfasst?
Linke unter Generalverdacht
Die Suche nach der Antwort lässt mich in die USA blicken, wo ein höchst faszinierender Präsidentschaftswahlkampf am Laufen ist.
Die indisch-jamaikanischen Wurzeln der demokratischen Kandidatin Kamala Harris veranlassen die republikanische Konkurrenz zu wilden Aussagen über deren Identität. Überhaupt ist die Kandidatin für ihre Gegner geradezu die Versinnbildlichung von Wokeness und Diversität – und damit die lebendige Antithese zu einem Sehnsuchts-Amerika, das weiss, traditionell und maskulin ist. Und das es längst nicht mehr gibt.
Dabei steht aber natürlich nicht nur Kandidatin Harris unter Wokeness-Verdacht. Unter Verdacht steht – auf beiden Seiten des Ozeans – so ziemlich das gesamte linksliberale Biotop. Also ein ziemlich grosses Biotop. Interessant ist freilich weniger die Frage, wer nun genau unter Verdacht steht – sondern weshalb dieser Generalverdacht gegen alle Halb- und Ganz-Linken entstanden ist.
Es gibt zwei Varianten: Entweder ist die Diagnose einer woken Kulturrevolution Ausdruck eines tatsächlichen, umfassenden Umbruchs, der – mit linksliberalem Ursprung – die Gesellschaft erfasst hat. Oder es handelt sich bei dieser Diagnose vielmehr um eine blosse Behauptung – und damit um ein Kampfvehikel von rechts, das zum Ziel hat, die linksliberale Gegnerschaft als abgehobene und mit Scheinproblemen (Genderstern! Veganismus! Unisex-Toiletten!) beschäftigte jung-urbane Elite zu diskreditieren.
Absurde Behauptungen
Auf der Suche nach einer Antwort habe ich mich an eine Podiumsdiskussion zum Thema «Polarisierende Wokeness» erinnert, an der ich vor einigen Monaten teilgenommen hatte. Ich stiess damals bei der Vorbereitung auf einen Text, den eine Kolumnistin des «Magazins» verfasst hatte und der exemplarisch aufzeigt, wo das Problem liegt.
Die Kolumnistin schrieb, die Linke sei «nichts mehr für mich», weil sie sich nicht mehr um linke Kernthemen wie Gerechtigkeit und Chancengleichheit kümmere, sondern nur noch um Sprachsensibilität.
Ist das so? Nehmen Sie ein x-beliebiges Schweizer Parlament und werten Sie einmal die linken Vorstösse aus. Sie werden rasch feststellen: Die Behauptung der Kolumnistin ist absurd. In diesen Vorstössen geht es um Energie, Umwelt, Wirtschaft, Steuern, Wohnen, Bildung, Soziales und immer wieder um Gerechtigkeit und Chancengleichheit – kurz: um den ganzen Katalog linker Kernthemen. Und dann haben vielleicht zwei von 100 Vorstössen ein Thema, das man unter den Titel «Wokeness» stellen könnte.
Eine linke Volksinitiative mit wokem Inhalt ist mir keine einzige bekannt.
Ganz anders auf der rechten Seite. Da werden nicht nur Vorstösse, sondern sogar Volksinitiativen lanciert, um das Rad der Zeit zurückzudrehen. In der Stadt Zürich soll auf diesem Weg ein Schreibverbote (keine Sonderzeichen!) erwirkt werden. Ein ähnlicher Vorstoss – in Form einer parlamentarischen Initiative – gab bereits im Nationalrat zu reden. Er verlangte: «Kein Gendern an den Hochschulen und Forschungsanstalten des Bundes.»
Eine Art Self-fulfilling Prophecy
Irritierenderweise rapportieren die Medien solchen Freiheitsverrat von rechts eher beiläufig beziehungsweise – ausgerechnet die liberale NZZ! – wohlwollend, währenddem vermeintliche oder tatsächliche Symptome linker Wokeness in eine breite, massiv überhöhte Berichterstattung münden.
Das führt dazu, dass die woke Kulturrevolution zu einer Art Self-fulfilling Prophecy wird: Man redet so lange über die angeblich grassierende Wokeness der Linken, bis ein ansehnlicher Teil der Bevölkerung glaubt, es stünde tatsächlich unsere gesamte Lebenswelt in einem woken Bann.
Kurzum: Die Diagnose, wonach die Linke von einer identitätspolitischen Mission beseelt, von Wokeness durchdrungen und damit Urheberin einer woken Kulturrevolution sei, ist falsch. Identitätspolitik und Wokeness sind rechte Obsessionen – und zwar strategisch bewusst gepflegte. Mit dem Ziel, den erzielten gesellschaftlichen Fortschritt wieder rückgängig zu machen und die alten Privilegien wieder herzustellen.
Mehr Fortschritt heiss weniger Privilegien
Diese rechte Wokeness-Obsession kommt freilich nicht von ungefähr. Sie ist die empörte Reaktion darauf, dass sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel verändert und bewegt hat – auch und gerade im gesellschaftspolitischen Bereich. Die Welt ist vielfältiger, bunter und diverser geworden, die Rechte von Minderheiten wurden gestärkt, die Diskriminierung bekämpft. So geht Fortschritt.
Fortschritt in Sachen Gleichheit geht mit dem Abbau von Privilegien einher. Die Vorherrschaft des Männlichen, die Norm des euroamerikanischen weissen Mannes, die Sprache des Ausschlusses und der Abwertung: Diese Pfeiler der alten Welt sind schwer am Bröckeln. Und daraus nähren sich der Widerstand und die Gegenbewegung.
Auch vor diesem Hintergrund ist der Blick über den Ozean aufschlussreich (und ebenso die Lektüre einer Kolumne in der «NZZ am Sonntag», die sich klug dem Thema gewidmet hatte.)
Dass sich etwas verändert hat, zeigt der Umstand, dass sich Kamala Harris gar nicht erst darauf einlässt, wenn ihre Gegner ihre Identität, also ihre Herkunft und ihr Geschlecht, ins Visier nehmen – sie lacht die Pöbeleien schlicht weg. Sie vertraut darauf, dass sich ihre emanzipatorische Erzählung in ihrem ganzen Wesen ausdrückt und sie diese folglich gar nicht mehr explizit zum Thema machen muss. Diversität als Selbstverständlichkeit. Vieles weist darauf hin, dass Harris’ Strategie funktioniert. Offenbar haben weite Kreise akzeptiert, dass die alten Privilegien am Erodieren sind.
Der Wahlkampf in den USA läuft zwar noch rund zwei Monate – ein Zwischenfazit lässt sich aber bereits jetzt ziehen: Verglichen mit 2016, als Donald Trump mit seinen sexistischen Angriffen gegen Hillary Clinton Wirkung erzielte, gehen die aktuellen Versuche Trumps, seine Konkurrentin nach demselben Muster zu demontieren, ins Leere. Es ist etwas passiert in den vergangenen acht Jahren – in den USA wie auch bei uns.
Bild: Die Welt ist vielfältiger und diverser geworden – in den USA wie bei uns. Die rechte Wokeness-Obsession ist die Reaktion darauf. (Foto: PD)
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